Internet-Tagebuch
Notizen aus der SeelingstraßeDonnerstag, 5. Oktober
Wieder einmal ein unschönes Erlebnis auf dem Klausenerplatz: Ein Messdiener lockt mich unter einem sehr fadenscheinigen Vorwand in die Kamillus-Kirche. Das Weihwasser sei eingefroren, ob ich helfen könne. Ich folge ihm und bin wieder einmal Opfer meiner Gutmütigkeit. Drinnen legt sich mir eine schwere Hand auf die Schulter. Die gehört Bischof Sterzinski. Sofort legt er los. Im Vatikan seine eine Stelle zu besetzen, "ganz oben, noch über dem Heiligen Vater", so der kompakt gebaute Kleriker. "Haben Sie Interesse?" Ich lehne mit dem Hinweis auf Auslandsverpflichtungen ab (Besuch der in Afghanistan stationierten Bundeswehrtruppen)
Freitag, 6. Oktober
Von der Gebietskoordination in der Fritschestraße kommt der Vorschlag, den Weihnachtsmarkt mit dem Sperrmülltag, dem Aktionstag der unbeschuhten Karmeliterinnen und der Mittsommernachtsfeier der Berliner Schausteller zusammenzulegen und im August stattfinden zu lassen. Man spare so Strom und Personal. Ich leite es weiter.
Sonnabend, 7. Oktober
Wieder einmal beobachte ich den schwarzgewandeten Mann, der seit einiger Zeit den Kiez durchwandert. Was es wohl mit ihm auf sich hat?
Sonntag, 8. Oktober
Seit gestern sind überall im Kiez Plakate zu sehen, die die Wiederkehr des Messias ankündigen. Der Heiland soll am 24. Oktober d. J. um 20 Uhr vor der Galerie Phoenix in der Christstraße erscheinen, so die Information auf den knallgelben DIN a 3 großen Postern. Im Verlauf der Epiphanie will man auch über günstige Anlagemöglichkeiten, sog. Hedgefonds, informieren, teilt die Wicked Investment Corporation mit. Da an diesem Abend Kiezblatt-Redaktionssitzung ist, kann ich leider nicht teilnehmen.
Montag, 9. Oktober
Anton lädt mich am späten Nachmittag auf einen Kaffee ins Villon ein, er müsse mir etwas Wichtiges mitteilen, habe sich aber bislang nicht getraut. Ich erfahre von ihm, daß er Österreicher ist, solle es aber "um alles in der Welt" nicht weitererzählen. Ich verspreche es ihm.
Dienstag, 10. Oktober
12.30 Uhr: Am Himmel sind seltsame Wolkenformationen zu sehen, die mich an Caravaggios "Der ungläubige Thomas" erinnern. Später wandeln sie sich und gemahnen an Werke spätmanieristischer Niederländer.
Mittwoch, 11. Oktober
Ich muß den ganzen Tag an die sechsköpfige Zigeunerfamilie denken, die ich Anfang der neunziger Jahre auf dem Bahnhof in Zoppot (Polen) gesehen habe.
Donnerstag, 12. Oktober
Olaf bietet mirdie Generalvertetung der von ihm produzierten CD "Urbane Folk(s)musik" im Großraum McMurdo an. Ich weiß nicht, wo das liegt, werde mich aber sachkundig machen.
Freitag, 13. Oktober
Der von Anton servierte Kaffee ist wieder einmal zu stark. "Mein lieber alpenländischer Freund", rede ich freundlich auf ihn ein, "du rüttelst am Watschenbaum." Er verspricht, sich zu bessern. Vor Rührung muß ich weinen bzw. husten. Schuld ist der Zigarettentabak.
Sonnabend, 14. Oktober
Gebannt stehe ich in der Seelingstraße vor dem Kiezbüro und blicke nach Westen. Es ist kurz nach 15 Uhr. Mehrere Menschen sind zu sehen, die in verschiedene Richtungen gehen. Auch Hunde erkenne ich. Es ist nicht zu fassen.
Sonntag, 15. Oktober
Ich lese Heines "Buch der Lieder". Susanne hat es auf dem Netto-Parkplatz-Flohmarkt gekauft.
Montag, 16. Oktober
Wenn nur die bekloppte Betriebsfeier nicht gewesen wäre, hätte ich noch heute meinen Führerschein und könnte nach, sagen wir Rathenow oder Bilbao fahren. Der Führerschein hieß im Osten "Fahrerlaubnis", weil man das Wort "Führer" mied, wie der Teufel das Weihwasser, wie der Bischof das Lebendigverbrandtwerden, wie der Österreicher das Hochdeutsch, wie (bricht hier ab)
Raymond Sinister - Alfred Rietschel - 23. Oktober 2006 - 18:51
vier Kommentare
Kein Trackback
Trackback link:
Dieser Text zeigt eins:
Der Autor ist def. schwachsinnig und selbstverliebt.
Scheint aber hier im Blog die Grundlage zu sein, wie man hier Autor wird.