Vera Icon - Teil 2
Was dem detailinteressierten Betrachter des Dürerschen Porträts des Hieronymus Holzschuher von 1526 in der Berliner Gemäldegalereie auffällt, gilt auch für das Bildnis des Herrn Karsten Sell: daß es nämlich in einer geschlossenen Abteilung - halt! Immer diese blöden Tippfehler! in einem Innenraum entstanden ist, spiegelt sich doch das Fensterkreuz in den Augen des Abgebildeten. Doch ganz so einfach ist die Sache nicht. Oft ist die Fensterreflexion nicht nur Realitätspartikel, sie hat zuweilen auch Symbolcharakter und verweist auf etwas anderes, das Sie bitte in jedem guten Kunstlexikon nachlesen wollen. Hier fehlt der Platz für weitere Ausführungen.
Auf was aber unbedingt eingegangen werden muß (neben meiner zwanghaften Vorliebe für Doppelpunkte):
der auf die mittelalterliche Goldgrundmalerei verweisende Hintergrund, vor dem uns der bebrillte, mit stark reduziertem Haarwuchs ausgerüstete Krawattenträger entgegenstrahlt. Und uns sofort an Leonardos Mona Lisa denken lässt. Aber nur ganz kurz, denn es geht um etwas anderes, um das "ganz Andere" (Fritz Hegel oder Sepp Herberger).
Gold, das edelste der Metalle, hat die Aufgabe, das Bild zu transzendentieren, will "eine bildliche Autonomie jenseits des Abbildes" (Gerhard Charles Rump: Eine neue Dimension in der Malerei. DIE WELT, 27.8.2005) herstellen, hinterfängt nicht Personen aus dieser Welt, sondern etwa Heilige, die Jungfrau Maria und immer wieder deren Sohn.
In der Bibel wird an keiner Stelle erwähnt, wie Jesus ausgesehen hat. Ja, im Alten Testament taucht er nicht einmal auf, dafür umso häufiger im Neuen. Immer, wenn es spannend wird, ist er dabei, gibt der Geschichte eine neue Wendung, stellt Fragen, greift ein. Das ist dramaturgisch nicht ohne Geschick in Szene gesetzt worden. Auch das Ende ist ohne ihn kaum vorstellbar. Wie er aber aussah? Keine Ahnung.
Müssen wir ihn uns wie Karsten Sell vorstellen?
Wir müssen es nicht, aber wir können es. Nichts spricht dagegen. Die Kirchen lassen uns da völlige Freiheit. Die Sancta Ecclesia in Rom mit Papst Benedict XVI. und seinem treuen Adlatus, Kardinal Ratzinger, an der Spitze hat keine Einwände, und den Protestanten ist sowieso alles egal.
Wenig aber ist über Karsten Sell bekannt. Ist er ein steinreicher Danziger Pelzhändler? Oder, wie manche munkeln, ein korsischer Freibeuter? Viel spricht für Letzteres, manches aber auch dagegen. Der Phänotypus allerdings läßt vermuten:
Leiter der AOK-Geschäftsstelle in Bad Orb.
Aufklärung tut hier not.
Was aber ganz und gar feststeht: die hohe, wenn nicht gar erlesene Qualität des Porträts, die feine Modellierung des Gesichtes, besonders im Kinnbereich, die raffiniert, aber sparsam gesetzten Lichter auf Wangen und Nasenspitze, die Ausleuchtung des oberen Dentalbereichs, die Harmonie von Inkarnat, hellblauem Oberhemd mit dreifarbiger Krawatte, dunklem Sakko und dem Goldgrund. Aber den hatten wir ja schon. Da grüßen Franz Hals, Giotto, Tintoretto, Rossini, Vermeer und wie sie alle heißen. Die können da noch manches lernen. Geht aber nicht: sind alle schon tot.
Was bleibt zum Schluß noch zu sagen?
Nichts.
Lesen Sie einfach diesen Aufsatz noch einmal durch. Wenn Sie an dieser Stelle angelangt sind, fangen Sie wieder von vorne an. Irgendwann können Sie ihn dann auswendig und wenn Sie ihn auf einer Fachtagung vortragen, steht ihrer Karriere als Kunsthistoriker nichts mehr im Wege. Ich gebe jedenfalls diesen Text frei, bitte aber, mich zu informieren, wenn er anderern Ortes publiziert wird. Auch Herr Karsten Sell soll ihn lesen. Der ganz besonders. Kann ihn bitte jemand informieren?
Fragt, mehrfach grüßend,
Ihr Alfred Rietschel, Kunstflaneur
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Die angekündigte Untersuchung des "Bildnis der Franziska Eichstädt-Bohlig" muß wegen eines Rechtsstreits mit dem Kunsthistorischen Instituts der Universität Florenz, Abt. Italienische Malerei des Trecento (Achtung! Die Kantine ab sofort freitags schon um 16.00 Uhr geschlossen!, auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden. Wir warten die Entscheidung der Europäischen Kunstschiedsstelle Luzern ab.
Der Aufsatz über das "Teilporträt eines älteren Mannes ("Seriösität sieht anders aus") wird wegen Arbeitsüberlastung voraussichtlich erst Mitte September erscheinen.
Raymond Sinister - Alfred Rietschel - 20. August 2006 - 12:29
vier Kommentare
Nr. 3, Harald Marpe, 08.09.2006 - 15:00 Lieber Herr Sell, der Autor dankt für das Lob. Und grüßt einen Politiker, der ganz offensichtlich nicht humorresistent ist wie manch andere. Ihr Harald Marpe |
Nr. 4, maho, 09.09.2006 - 01:04 ach, schade, Ein korsischer Freibeuter in der CDU wäre doch was gewesen, das hätte ich wirklich gut gefunden, wieder eine Illusion kaputt |
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zu Mr. Sell will ich mich noch melden.
Vorab aber zu:
“Wegen eines schweren redaktionsinternen Zerwürfnisses wird der Aufsatz über das “Teilporträt eines Älteren Mannes (“Seriösität sieht anders aus”) nicht erscheinen.”
Das gibt,s nicht, nein auf keinen Fall, mich nötigen den Frontmann zu zeigen und dann kneifen?
Ich wiederhole gerne fremde Sprüche:
“Treten Sie für die Meinungsvielfalt ein! Wir haben ein Recht auf Wahrheit! Und Selbstbestimmung!”