Internet-Tagebuch
Notizen aus der SeelingstraßeDienstag, 17. Oktober 2006
Anton hat sich unerlaubt Zugang zu meinen Tagebuchaufzeichnungen verschafft und droht mit Konsequenzen. Er will sich rächen, so der in einem befreundeten Alpenstaat geborene Mann. "Wir Reichsdeutschen haben mit Österreichern gute und schlechte Erfahrungen gemacht. Tu, was du willst!", fordere ich ihn auf und verweise auf Toni Sailer, A.Hüttler und Toni Sailer. Als Kleinkind, so Anton, habe er einmal Toni Sailer die Hand drücken dürfen. Nun kann ich auftrumpfen: "Ich habe Mozart schon einmal einen Almdudler serviert, als ich auf dem Großglockner eine Jausenstation betrieben habe." Da Anton Mozart nicht kennt, ist er wenig beeindruckt.
Mittwoch, 18. Oktober
Ich erhalte von Anton die Erlaubnis, ihn "Toni" zu nennen, lehne das Angebot aber ab.
Donnerstag, 19. Oktober
Ich bemerke, daß sich die letzten Eintragungen doch sehr auf Anton konzentrieren. Das gilt es zu ändern. Ich berichte ihm davon, er protestiert und verspricht, mich regelmäßig mit österreichischen Spezialitäten zu versorgen, falls er weiter in meiner Kolumne auftaucht. Er will mir "Salzburger Nockerl, Kaiserschmarrn, Zithern, Wiener Schnitzel, Gamsbärte, Kniebundhosen, Heurigen, kanisterweise, soviel du willst, Bücher von Karl Kraus, Beethoven und Toni Sailer und jede Menge anderes Zeug" ins Kiezbüro bringen, wenn er auch zukünftig in meinem Tagebuch mitspielen darf. Auch werde es mir nicht an Geld mangeln: "Druckfrische Hundert-Schilling-Scheine, soviel Du willst." Ich erbitte mir Bedenkzeit bis morgen.
Freitag, 20. Oktober
14.30 Uhr: Nachdem ich Anton abschlägig beschieden habe, verschwindet er, "um kurz was aus der Wohnung zu holen" und taucht schon bald mit einem Bullterrier wieder auf, der einen "hilfreichen Einfluß" auf meine Entscheidung ausüben soll. Der Hund heißt Kurt, so erfahre ich, und sei "extrem nervös". Ich überlege kurz, blicke in Kurts blutunterlaufene Augen und verspreche den beiden, daß sie zum zentralen, wenn nicht gar einzigen Thema meiner Aufzeichnungen werden. Jeden Tag werde ich über die beiden Musterexemplare ihrer Gattung berichten, ein Loblied auf Herr und Hund singen, wie es die Welt noch nie gehört hat. Toni ist gerührt und gibt dem Vierbeiner den Befehl, den Biß in meinen linken Unterschenkel zu lockern. Vor Rührung fließen Tränen: erst meine, dann Tonis, schließlich weint auch der Hund. Es geht auf Weihnachten zu.
Sonnabend, 21. Oktober
Ich richte ein Schreiben an die Österreichische Operpostdirektion in Attnang-Puchheim mit der Bitte, eine 120 Schilling-Briefmarke mit den Maßen 130 x 70 cm (Höhe vor Breite) zu Ehren von Toni herauszugeben.
Sonntag, 22. Oktober
Nun schon der dritte Tag ohne Alkohol. D.h. ich habe die tägliche Underberg-Ration von 40 PortionsFlaschen auf 12 heruntergefahren.
Montag, 23. Oktober
Mein Vorschlag, auf dem diesjährigen Weihnachtsmarkt einen Workshop für Kinder einzurichten, wird auf der AG-Sitzung im Kiezbüro einhellig abgelehnt. Arbeitstitel: "Der kleine Sprengmeister. Spielerischer Umgang mit TNT und Nitroglyzerin".
Dienstag, 24. Oktober
Besuch des Marktes auf dem Klausenerplatz mit S. Sie kauft mehrere Batterien für Armbanduhren, die wir zusammen im Kiezbüro einsetzen. So kann ich mit fünf Chronometern gleichzeitig herumlaufen. Ein schönes Gefühl.
Mittwoch, 25. Oktober
Pigment-Donation-Day
Donnerstag, 26. Oktober
Wieder einmal blättere ich in Bahlows Namenskunde (Hans Bahlow: Deutsches Namenlexikon. Familien- und Vornamen nach Ursprung und Sinn erklärt. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1972). Zu meinen Favoriten gehören Rietschel, Ledebur, Harseim, Tigges, Schüttler und Beck. Beck ist überhaupt der schönste Name von allen. Noch vor Bismarck und Jesus.
Freitag, 27. Oktober
Ich versuche, den Film "Die Nacht des Jägers", Regie: Charles Laughton, Darsteller: Robert Mitchum, Shelley Winters u.a. um 22.00 Uhr im ZDF zu sehen. Da er aber an diesem Tag nicht ausgestrahlt wird, scheitert mein Vorhaben.
Sonnabend, 28. Oktober
9.00 Uhr: Ich sitze mit S. im Villon und studiere die F.A.Z. Am Nebentisch sitzt ein älteres Ehepaar, sie blond, er mit einem Schnurrbart. Als sie aufbrechen (der Mann geht voran), richtet die Frau einige Worte in Richtung Spiegel. Erst nach einigen Sekunden merke ich, daß sie den Kurzhaardackel angesprochen hat, der auf der Bank verblieben war und nun, laut bellend, der Frau folgt, die sich zum Gehen anschickt. Interessiert blicken wir den dreien hinterher.
Sonntag, 29. Oktober
Besuch des Flohmarktes auf dem Netto-Parkplatz mit S. Ich erstehe ein schönes Plastik-Polizeiauto mit Fernlenkung, einen Kindersocken als Aufbewahrungstasche für mein seit acht Monaten deaktiviertes Handy, mehrere in Südkorea gedruckte Weihnachtsgrußpostkarten, einen Schurwollepullover, einen Roman von James Mc Pheromhon, verschiedene Schamkapseln aus Bakelit sowie knapp 30 andere hier nicht weiter aufzulistende Kleinteile.
Montag, 30. Oktober
Wieder einmal ist Sitzung der Weihnachtsmarkt-AG im Kiezbüro. Wieder einmal scheitere ich mit einem Vorschlag. "Auf Lukrecia Borgias Spuren. Der Kleine Giftmischer: Spielerischer Umgang mit Arsen, E 605 und Zyankali." Es sollte ein Workshop für Kinder werden. Ich überlege ernsthaft, demnächst aus dem Kiezbündnis wieder auszutreten.
Dienstag, 31. Oktober
Als ich wie jeden Tag um acht Uhr das Kiezbüro betrete, herrscht Totenstille. Ich ziehe die Rollos hoch. Auch von draußen kein Laut. Erst als ich Puccinis "La Boheme" in den CD-Spieler schiebe, vernehme ich Geräusche. Als dann "Wie eiskalt ist dies Händchen" erklingt, ist es soweit: Mir laufen die Tränen. Grund: Rührung.
Mittwoch, 1. November
Die vorgestern erfolgte Trennung von S. macht mir doch sehr zu schaffen. Ich fahre die Underberg-Ration hoch: Nun sind es wieder 40 Portionsflaschen pro Tag. Dazu kommt die komplette Essensverweigerung. Letztlich ist das aber auch keine Lösung.
Donnerstag, 2. November
Ich erzähle Anton von meinen Problemen. Er läuft sofort los und besorgt mir Pide, Schafskäse, Underberg und Tomaten. Schon nach zwei Stunden habe ich alle Sorgen vergessen. Und denke an Johnny Cash: Bei dem ging es auch immer auf und ab.
Freitag, 3. November
Ich habe mich in William Thackerays "Jahrmarkt der Eitelkeiten" (Hamburg: Rowohlt 1957) festgelesen, so fest, daß ich nicht über S. 33 hinauskomme. Da steht als Schlußsatz: "Er war selbst ganz überrascht und entzückt von seinem gewandten, vertraulichen Benehmen." Wieder und wieder lese ich den Satz, schaffe es aber nicht, auf S. 34 umzublättern. Nach etwa 20 Minuten gebe ich auf und beschließe, den Satz auf mich zu beziehen.
Sonnabend, 4. November
Ich treffe S. auf dem Flohmarkt Klausenerplatz. Wir fahren trotz Trennung mit dem Rad in die Gemäldegalerie. Vor Frans Hals' "Malle Babbe" bleiben wir lange stehen, ich erzähle ihr von Tizian, Rubens, Botticelli, Rossini und davon, wie ich einmal Rembrandts "Bildnis der Hendrikje Stoffels" in meinem eigenen Händen gehalten habe, aber da fällt mir wieder der Satz aus Thackerys Roman ein. Ich verlasse sie sehr plötzlich, setze mich aufs Rad und entschwinde in Richtung Kiezbüro.
Sonntag, 5. November
Auf dem Netto-Parkplatz-Flohmarkt begegnet mir S. Ich tue so, als ob ich sie nicht kenne, blicke ihr aber trotzdem nach, als sie mit mehreren Einkaufstüten in Richtung "Linde" verschwindet.
Montag, 6. November
Endlich wird ein Vorschlag von mir angenommen. Die Weihnachtsmarkt-AG Kiezbündnis Klausenerplat e.V. beschließt einstimmig, einen Stand für die Kleinen zu reservieren: "Insekten-Biotope. Verschiedene Kinderläden aus dem Kiez setzen Flöhe, Wanzen und Läuse aus. Für Aufregung unter den Erwachsenenen ist gesorgt." Mein Verbleiben im Kiezbündnis ist gesichert.
Dienstag, 7. November
Anruf von S. im Kiezbüro. Da ich mich mit "Katholischer Hundefriedhof Attnang-Puchheim" gemeldet habe, legt sie sofort wieder auf.
Mittwoch, 8. November
Mir fällt ein, daß der Refornmationstag am 31.10. vollkommen vergessen wurde. Als verspäteten Ersatz halte ich Anton einen zweistündigen Vortrag über Luther, das "Sola-Fide-Prinzip" des Wittenbergischen Reformators (s. den Römer-Brief des Apostel Paulus) und verschiedene, die Protestanten von den Papisten trennende Glaubenssätze. Zu spät bemerke ich sein vollkommenes Desinteresse. Erst als ich die Rede auf Heimito von Doderer, Anton Polgar und Anton Kuh bringe, geht sein linkes Augenlid leicht auf. Schließt sich aber wieder. Das hat es mit diesem Tagebuch gemein.
Raymond Sinister - Alfred Rietschel - 30. Oktober 2006 - 22:16
ein Kommentar
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Katholischer Hundefriedhof
Ist es eigentlich wirklich so verdammt erschreckend wenn jemand sich am Telefon mit
Katholischer Hundefriedhof
meldet oder warum legen viele dann gleich wieder auf ohne ein Wort zu sagen?
...
Am 04.02.2008 - 16:45 , via SammelSchrott
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Hui,
diese Zeitreisenden mal wieder..
solang sie nicht im warmen Strudel der Zeit oder gar des Apfels verloren gehen..
Gruss,
Marcel