Leseempfehlung (2)
Sigrid Damm, Goethes letzte Reise
Goethe kennt jeder aus der Schule, und dann gibt's noch Goethestraße, -platz, -theater, -gymnasium, -anum, -Institut usw.
Der älteren Generation ist darüberhinaus bekannt, daß Goethe nicht nur Gedichte und Theaterstücke verfaßt hat, sondern außerdem als Minister für Bergbau, Finanzen und Bildungseinrichtungen verantwortlich war, daß er sich mit Mineralogie, Morphologie ("missing link") und Optik (Farbenlehre) beschäftigt hat, daß er das Theater in Weimar leitete und 2000 Handzeichnungen angefertigt hat - daß er also Künstler, Naturwissenschaftler und leitender Regierungsbeamter in einem war.
Dennoch wußte ich über Goethes Leben nur wenig - bis ich "Goethes letzte Reise" las. Dies Buch ist allerdings keine Biographie im üblichen Sinn, in der ein Leben chronologisch dargestellt wird. Vielmehr geht es zunächst einmal um Goethes sechstägige Reise Ende August 1831, die er zusammen mit seinen beiden Enkeln von Weimar nach Ilmenau unternahm.
Das Besondere an diesem Buch ist, daß die verschiedenen Momente dieser Reise zum Anlaß genommen werden, immer wieder in Goethes Leben zurückzuschauen.
Zu diesen Rückblicken gehören: Goethes abschließende Beschäftigung mit "Faust. Zweiter Teil" (als Vorspiel der Reise); der Bergbau in Ilmenau, den wieder anzukurbeln in Goethes Verantwortung gelegen hatte; Entstehung, Interpretation und Rezeption seines Gedichts "Über allen Gipfeln ist Ruh"; sein Umgang mit dem Tod; die Mineralogie (Vulkanisten vs. Neptunisten, vom Umwandlungsgestein wußte man damals noch nichts); seine letzte Liebe, Ulrike v. Levetzow, 1823 in Marienbad; Goethes äußeres Erscheinungsbild; das Zusammenleben von drei Generationen im Haus am Frauenplan in Weimar; seine Haltung zur Julirevolution 1830 in Paris; die Beziehung zu seinem Sohn sowie zu dessen beiden Kindern; seine letzten Lebensmonate (als Nachtrag); u.v.m.
"Goethes letzte Reise" ist eine sehr penible Rekonstruktion anhand unzähliger Quellen (die geschickt in Kursivschrift in den Text eingefügt sind, ohne den Lesefluß zu unterbrechen), das ganze überwiegend im Telegrammstil geschrieben, was gewöhnungsbedürftig ist, aber die Konzentration auf die Fakten unterstreicht. Die Verfasserin beschäftigt sich schon über 20 Jahre in erster Linie mit Goethe selbst und Personen aus seinem Umkreis: seiner Schwester Cornelia, seiner Frau Christiane, Jakob Michael Reinhold Lenz und Friedrich Schiller.
Das Buch beeindruckt durch seine außerordentliche Vielseitigkeit. Es ist kurzweilig und fesselnd. Und es macht Lust, sich mit dem einen oder anderen darin behandelten Ereignis oder Thema selbst weiter zu befassen.
Sigrid Damm, Goethes letzte Reise, Frankfurt/M. (Insel) 2007 - 354 Seiten, 19,80 Eu - Stadtbücherei: L 536 Goet
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Michael R. - Gastautoren, Kunst und Kultur - 24. September 2008 - 00:24
Tags: goethe/sigrid_damm
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Ich habe das Buch auch gelesen und kann die informative Rezension des Autors, M.Röder, nur unterstreichen. Wer bei Goethe an seine Schulzeit erinnert wird und dabei unangenheme Empfindungen verspürt, kommt durch dieses Buch auf neue Gedanken und Einsichten. Die Autorin, Sigrid Damm, versteht es, den Leser neugierig zu machen und Interesse – was ja übersetzt Zwischen-Sein heißen soll – zu wecken. Ja, man ist zwischendrin, in Goethes Zeit vor zweihundert Jahren in einer wunderschönen Stadt, vor dessen Toren, am berühmten Ausflugsort, dem Ettersberg, einem das nackte Grausen kommen kann. Aber das ist ein anderes Thema.