Leseempfehlung (4)
Philip K. Dick
Man braucht von ihm nichts gelesen zu haben, um ihn trotzdem ein bißchen zu kennen, sofern man z.B. Total Recall oder Minority Report im Kino gesehen hat, da beide Filme auf Geschichten von ihm basieren. Wenn aber Stanislaw Lem recht hat, als er Philip K. Dick (1928-1982) als einen "Visionär unter Scharlatanen" (1975) bezeichnete, dann scheint es die Sache wert, doch die einen oder anderen seiner etwa 120 Kurzgeschichten und mehr als 30 Romane, die fast alle im SF-Milieu spielen, zu lesen, um den wirklichen Philip K. Dick kennenzulernen.
Bloß: Was ist "wirklich"? Diese Frage stellt (sich) Dick immer wieder in seinen Geschichten, z.B. in dem Roman Zeit aus den Fugen: Wir sind im Jahr 1958 (also dem Jahr der Entstehung des Romans). Ragle Gumm greift im Bad nach der von der Decke herabhängenden Schnur, um das Licht auszuschalten - bloß ist da gar keine Schnur, sondern nur ein ganz normaler Wandschalter. Er kommt ins Grübeln: Ob vielleicht früher ...? Allmählich stößt er auf immer mehr Ungereimtheiten, bis ihm dämmert, daß etwas nicht stimmen kann.
Die Parallele zu Peter Weirs Film Die Truman-Show (1998, mit Jim Carrey) springt ins Auge; tatsächlich ist der Film maßgebend von Dicks Roman beeinflußt. Wo aber der Film endet (als Truman aus seiner Welt aussteigt), da kommt Dick erst zu seinem Hauptanliegen: Was ist real? Und insbesondere: Wer bestimmt, was real ist?
Ragle Gumms schöne Welt von 1958 (also die Welt des damaligen Lesers) zerfällt nämlich zusehends, und dahinter erscheint die Welt von 1998, in der die US-Regierung dem Protagonisten eine Scheinwelt erbaut hat, um von seiner besonderen Fähigkeiten zu profitieren: vorauszusagen, wo am nächsten Tag eine von abtrünnigen Mondkolonisten abgeschossene Rakete ins weitgehend verwüstete Nordamerika einschlagen wird.
Anhand der bisherigen Andeutungen läßt sich schon erkennen, was typisch für Dicks SF-Geschichten ist: Sie spielen auf einer Erde, die sich gerade in einem Krieg auf Leben und Tod befindet oder schon einen verheerenden Atomschlag hinter sich hat, oder in Kolonien im nahen Weltraum (z.B. auf dem Mars). Auch andere SF-übliche Elemente kommen in seinen Geschichten zum Einsatz (Androiden, Zeitreisen, Weltretter usw.). Dick bedient sich dieses SF-Gewandes, um seine persönliche Weltsicht darzustellen, die bestimmt ist durch Bedrohung, Zerfall, Verlust und der Suche nach Identität. Damit sind wir bei der zweiten zentralen Frage, die Dick immer wieder bewegt hat: Was ist menschlich?
Diese Frage steht im Mittelpunkt des Romans Träumen Androiden von elektrischen Schafen? (auch: Blade Runner). Hier die Grundidee: Nach einem Atomkrieg sind die meisten Erdbewohner in die Marskolonien geflohen, wo sie mithilfe von für sie arbeitenden Androiden leben. Gelegentlich entlaufen jedoch "Andys" zur Erde, wo sie von Kopfgeldjägern der Polizei (genannt Blade Runner) aufgespürt und vernichtet werden. Die Schwierigkeit besteht jedoch darin, sie zu identifizieren, da sie so menschenähnlich sind, daß manche (Menschen) für sie mitmenschliche Gefühle entwickeln. Es geht also um die Frage, was Menschen gegenüber noch so menschenähnlichen Maschinen auszeichnet, was letztlich den Menschen zum Menschen macht.
Dicks beide Hauptthemen sind auch heute aktuell. Allerdings sollte man sich als Leser von ihm keine Antworten erwarten. Was man aber erwarten darf, sind Geschichten, deren Protagonisten keine besonderen Helden, sondern alltägliche Menschen sind, die sich zu behaupten versuchen in einer lebensfeindlichen Umwelt. Diese Geschichten erzählt Dick flott und lebendig, indem er den Leser an den Gedanken seiner Figuren unmittelbar teilhaben läßt, gibt ihnen überraschende, manchmal auch verwirrende Wendungen und wird dabei gelegentlich auch metaphysisch.
Philip K. Dick, Zeit aus den Fugen (Time out of Joint, 1958); Träumen Androiden von elektrischen Schafen? (auch: Blade Runner) (Do Androids Dream of Electric Sheep?, 1966); ebenfalls sehr lesenswert die Kurzgeschichtensammlung Minority Report (mit Texten aus den Jahren 1953 bis 1969, darunter: Der Minderheiten-Report, Erinnerungen en gros, Variante zwei, Hochstapler) - in der Stadtbücherei: Science Fiction SL Dick
Filme nach Geschichten von Philip K. Dick:
- Blade Runner (1982, R.: Ridley Scott, D.: Harrison Ford), nach: Träumen Androiden von elektrischen Schafen?
- Total Recall/Die totale Erinnerung (1990, R.: Paul Verhoeven, D.: Arnold Schwarzenegger, Sharon Stone), nach: Erinnerungen en gros (We Can Remember It for You Wholesale, 1965)
- Screamers/Tödliche Schreie (1996, R.: Dan O'Bannan), nach: Variante zwei (Second Variety, 1952)
- Impostor/Hochstapler (2001, R.: Gary Fleder), nach: Hochstapler (1953)
- Minority Report (2002, R.: Steven Spielberg, D.: Tom Cruise), nach: Der Minderheiten-Report (1954)
MichaelR
Michael R. - Gastautoren, Kunst und Kultur - 05. November 2008 - 00:14
Tags: philip_k._dick/science_fiction/sf
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Klasse be- geschrieben !