Herr C.
Herr C. ist mit seinen 20 Jahren in einem Alter, wo man gerne sagt: er habe 'noch sein ganzes Leben vor sich'. Und was ist mit den schon vergangenen Jahren; welche Bedeutung haben sie für dies zukünftige 'ganze Leben'?
Herrn C.s Startbedingungen waren günstig: er war ein Wunschkind, wurde dazu noch an einem Sonntag geboren, und seine Eltern gaben ihm beide viel Zuwendung. Aber richtig genützt hat es ihm nicht: kurz vor Weihnachten, als er sechseinhalb war, erfuhr er, daß ein Elternteil ausziehen werde.
Wie läßt sich ausdrücken, was Herr C. dabei empfand, der doch seine beiden Eltern liebte, und jetzt waren sie unvereinbar miteinander, damit auch das gemeinsame Zuhause plötzlich weg und gleichzeitig die Sicherheit, die es gab; stattdessen dauerndes Hin-und-her-Pendeln zwischen ihnen, immer fehlte der andere Elternteil; immer wieder Trennung und Wiedersehen; das Gefühl von Fremdheit bei jedem Wechsel von der einen Wohnung zur anderen, was ja dann auch hieß: von der einen feindlichen Seite zur anderen; der ständige Druck, welche Seite die richtige ist; und nicht nur der Verlust des einen sicheren Zuhauses, sondern auch der Orientierung ganz allgemein.
Man kann sich leicht vorstellen, daß dies viel Kraft kostete, und vielleicht erklärt sich so, warum Herr C. im Laufe der Jahre immer lustloser wurde, ohne inneren Antrieb, mutlos. Natürlich gab es immer wieder etwas, was ihn packte, Playmobil, Gogos, Basteln, Videospiele, besonders Fußball und GTA. Auch suchte er nach einer Sportart, die ihm zusagte, bis er zum Kampfsport kam. Aber für die Schule tat er immer weniger, so daß er die 9. Klasse beinah hätte wiederholen müssen. Auch später hatte er weiterhin zwar fast keine Fehlzeiten, nutzte aber die schulischen Angebote kaum. Trotz allem schaffte er es, nicht aus der Schule herauszufallen, und machte sein Abitur.
Jetzt steht Herr C. am Ende des selbstgewählten Zivildienstes in einem Krankenhaus. Er hat dort etwas Einblick in den OP-Betrieb gewonnen und gelernt, "sich der Arbeit hinzugeben". Seit einiger Zeit hat er auch schon eine Vorstellung von seinem künftigen Beruf - er möchte zur Kriminalpolizei, weil er sich von dieser Tätigkeit erwartet, daß sie ihn geistig und körperlich fordert. Zur Zeit macht Herr C. den Führerschein. Im Sommer will er zwei Monate in die USA reisen: Es sieht so aus, daß Herr C. einen Zugang zu seinem eigenen Weg findet.
MichaelR
Michael R. - Gastautoren, Menschen im Kiez - 30. April 2009 - 00:04
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