Herr P.
Öfters, wenn Herr P. an die Vergangenheit denkt, überkommt ihn Traurigkeit. Zwar ist es nicht so, daß Herr P. durchweg eine traurige Vergangenheit gehabt hätte, aber gerade die schönsten Momente der Vergangenheit sind für ihn ein besonderer Grund zur Traurigkeit, eben weil sie vergangen und also unwiederbringlich sind.
Kürzlich ist Herrn P. bewußt geworden,daß er im Laufe seines Lebens eine Methode entwickelt hat, die Vergangenheit doch irgendwie festzuhalten: Er macht dies mithilfe von Gegenständen des täglichen Gebrauchs. Manche von diesen sind Herrn P. besonders wichtig und wertvoll geworden, weil sie einen engen Bezug zu bestimmten Menschen und Erlebnissen mit diesen Menschen haben. Es sieht so aus, als ob sie für Herrn P. geradezu deren Repräsentanten sind und die Vergangenheit in ihnen weiterlebt, so daß ihre Beschädigung oder gar ihr Verlust für Herrn P. gefühlsmäßig gleichbedeutend wäre mit dem endgültigen Verlust der tatsächlichn Menschen und der gemeinsamen Erlebnisse mit ihnen.
Herr P. ist sich manchmal darüber im Klaren, daß die Vergangenheit eine zu große Rolle in seinem Leben spielt; sogar von Berufs wegen ist er mit ihr befaßt. Er fragt sich dann, was ihn so an die Vergangenheit kettet, und gibt sich darauf diese Antwort: Die Gegenwart ist unbefriedigend; vieles von dem, was Herr P. vorhatte, hat bisher nicht geklappt, und insbesondere fühlt er sich allein - nicht immer, aber doch in entscheidenden Momenten, zum Beispiel, wenn er nach Hause kommt, und es ist niemand da, der sich über seine Rückkehr freuen oder mit dem er sich unterhalten könnte oder der wenigstens durch seine Anwesenheit die Wohnung beleben würde. Da ist es nur gut, daß Herr P. es meist schafft, sich selbst genug zu sein, und sich auch an kleinen Dingen erfreuen kann. Vielleicht hätte er sonst schon seinem Leben ein Ende gesetzt; jedenfalls daran gedacht hat er bereits dann und wann, aber letztlich doch nie etwas in der Richtung unternommen, vielleicht, weil er sich nicht traut, solch einen endgültigen Entschluß zu fassen.
Glücklicherweise ist Herr P. nur gelegentlich in dieser düsteren Stimmung, und zwar besonders dann, wenn er mit solchen Teilen seiner Vergangenheit in Berührung kommt, deren unwiederbringliches Vergangensein ihn besonders schmerzt und ihm seine unbefriedigende Gegenwart allzu deutlich vor Augen führt. Sollte er also solche Berührungen vermeiden? Manchmal denkt er das, aber bringt es doch nicht übers Herz. Besser wäre es, wenn Herr P. sich eine handfeste Zukunft schaffen würde.
MichaelR
Michael R. - Gastautoren, Menschen im Kiez - 20. Juni 2009 - 15:42
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