Lesetipp XI: Der Denker des Trotzdem
Wer ist ein Klassiker? Ein Autor, der zum allgemeinen, nicht notwendig ausgesprochenen Kanon gehört, dessen Werk als wichtig und ungemein lesenswert eingeschätzt wird, dessen Texte von Erwachsenen gebilligt und von Jugendlichen verschlungen werden. Ein richtiger Literat eben, der Zeitgebundenheit enthoben und insgeheim nicht so ganz ernst genommen. Diese gewiss polemische Skizze trifft im Deutschen etwa auf Franz Kafka zu und auf Max Frisch, auf Hermann Hesse und auf Bertolt Brecht. In Frankreich kann Albert Camus dem zwiespältigen Etikett eines Klassikers nicht mehr ausweichen, ist er doch vor 50 Jahren gestorben. Seine Bücher erreichen Auflagen in Millionenhöhe, in der Oberstufe des Gymnasiums werden sie seit Jahrzehnten gelesen. Der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy schlug unlängst vor, Camus’ Leichnam als Teil des nationalen Erbes aus Südfrankreich ins Pariser Panthéon zu verlegen. Steht etwa eine Camus-Renaissance ins Haus? Was hat dieser Autor zwischen Philosophie, Politik und Literatur der Welt von heute für Impulse zu geben?
Albert Camus wird 1913 in Mondovi im französisch besetzten Algerien in ärmlichen Verhältnissen geboren. Dank der Förderung seines Philosophielehrers kann er das Abitur machen; sein Studium schließt mit einer Arbeit über „Christliche Metaphysik und Neoplatonismus“ ab. Camus beginnt als Reporter in Algier und geht Ende der 1930er Jahre mit seiner Familie nach Paris, wo er Lektor im Verlag Gallimard wird. 1942 erscheinen der epochale Roman „Der Fremde“ und die legendäre Interpretation des „Mythos von Sisyphos“. Während des II. Weltkriegs arbeitet er in der Résistance und leitet die Zeitung „Combat“; seine antifaschistische Haltung bringt ihn in die Nähe des Marxismus, ohne dass er dieser Ideologie komplett verfällt. Nach der Befreiung Paris’ 1944 avanciert er neben Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir zum Fixstern des Existentialismus. 1947 veröffentlicht er den hoch moralischen Roman „Die Pest“. Die redaktionelle und politische Zusammenarbeit mit Sartre endet, wie auch beider Freundschaft, abrupt 1951, als dieser Camus’ Essay „Der Mensch in der Revolte“ als humanistisch verreißt. 1956 publiziert er die Novelle „Der Fall“, 1957 wird sein Werk etwas überraschend mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Albert Camus kommt 1960 bei einem Autounfall im Süden Frankreichs ums Leben.
Camus’ Denken nimmt seinen Anfang mit der Erfahrung des Absurden. Er sieht es als anthropologische Konstante an, dass es in der Welt Grausamkeiten, Kriege und Ungerechtigkeiten aller Orten gibt, die den Menschen in seinem Bedürfnis nach Liebe, Freundschaft und Vertrauen zur Verzweiflung treiben können. Die Erfahrung des Absurden beschreibt das Schweigen Gottes auf die Fragen des Menschen, es verortet diesen in eine kalte dunkle Leere ohne rettende Perspektive. So hebt „Der Mythos von Sisyphos“ mit den berühmten Sätzen an: „Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord. Die Entscheidung, ob das Leben sich lohne oder nicht, beantwortet die Grundfrage der Philosophie.“ Camus sieht im Schicksal des antiken Sisyphos, der dazu verdammt ward, auf ewig einen schweren Stein auf die Spitze eines Berges zu wuchten, von der er sogleich wieder hinunter rollte, ein Sinnbild des modernen Menschen. Dieser kann seinem Los des Geworfenseins in die Welt nicht entgehen, er kann, ja, muss ihm aber einen Sinn geben, den es von sich aus nicht hat. Erst in der mutigen Aktivität, in der trotzigen Bejahung der Existenz überschreitet er die Grenzen der Kreatürlichkeit und verleiht sich eine menschliche Würde. Camus schlussfolgert zu Sisyphos’ Kampf mit dem Fels: „Jedes Gran dieses Steins, jeder Splitter dieses durchnächtigten Berges bedeutet allein für ihn eine ganze Welt. Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“
Solch Pathos trifft den Nerv der Nachkriegszeit. Im Paris der 1950er Jahre inszenieren Samuel Beckett und Eugene Ionesco ihre Stücke des absurden Theaters, spricht Jean-Paul Sartre davon, angesichts des Nichts sei der Mensch zur Freiheit verurteilt. Camus verweigert sich der unbedingten Parteinahme zugunsten der Sowjetunion am Beginn des Kalten Krieges und isoliert sich dadurch innerhalb der französischen Intelligenz. Er ist auf Bewahrung einer größtmöglichen Autonomie bedacht und sucht nach Wegen eines sittlich-moralischen Handelns ohne Terror und Zensur. So wird der agnostische Camus, zu dessen philosophischen Quellen Sören Kierkegaard und Friedrich Nietzsche zählen, unter der Hand zum Protestanten. Die spröde Schönheit seiner Prosa, geschult an Herman Melville, Fjodor Dostojewski und Ernest Hemingway, übt auch auf heutige Lesende ihren Reiz aus. So zieht Meursault, der zum Tode Verurteilte, am Schluss des „Fremden“ eine wütende Bilanz: „Jeder sei bevorzugt. Es gebe nur Bevorzugte. Auch die anderen werde man eines Tages verurteilen. Auch ihn werde man verurteilen. Was läge daran, wenn er, des Mordes angeklagt, hingerichtet würde, weil er beim Begräbnis seiner Mutter nicht geweint habe?“ Verantwortung zu übernehmen heißt zu akzeptieren, dass mein Handeln Konsequenzen hat, für mich und für andere. Albert Camus hat Zeit seines Lebens darauf bestanden – und darauf, dass es Trost nur im Miteinander gibt. Eine klare Aussage auch für die Gegenwart.
Ausgewählte Werke Albert Camus’, erschienen im Rowohlt-Verlag:
- Die Pest (1950)
- Der Mythos von Sisyphos (1959)
- Der Fremde (1961)
- Gesammelte Erzählungen (1966)
- Der Mensch in der Revolte (1969)
- Tagebücher 1935-1951 (1972)
- Der erste Mensch (1995)
Andrea Bronstering - Gastautoren, Kunst und Kultur - 09. Januar 2010 - 00:02
Tags: albert_camus/literatur
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