Ein weiter Weg
Als Stefan spät nachts nach Hause kam, signalisierte ihm sein Telefon - ja, er hatte noch ein Festnetztelefon, teils aus alter Gewohnheit und auch, weil einige alte Verwandte es ablehnten, ein Handy anzurufen, wegen der Kosten und überhaupt - blinkte also ein Licht, das ihm zeigte, daß in seiner Abwesenheit ihn jemand zu erreichen versucht hatte. Viele kamen da nicht infrage, aber ehe er lange rätselte, drückte er gleich die Taste, und schon ertönte nach einigem einleitenden Piepsen die Stimme seiner Tante Annie, seiner Großtante, einer Schwester mütterlichseits. Sie bat ihn in ihrer unnachahmlich bestimmten Art, sogleich zu ihr zu kommen, sie müsse ihre Wohnung auflösen, da sie nun doch ins Altersheim zöge, und brauche ihn zu diesem Zweck, um einige Dinge zu regeln und auch für den Transport. Und nochmals, es sei dringend, er solle also gleich losfahren.
Da er aus Erfahrung wußte, daß mit Tante Annie zu argumentieren sinnlos war - außerdem war sie um diese Zeit schon längst im Bett -, entschied er sich seufzend, ein paar Dinge zusammenzusuchen, sich etwas zum Essen und eine Thermoskanne starken Kaffees zuzubereiten, aufzutanken und halt loszufahren. In der Nacht würde er gut vorankommen, und morgen früh am Samstag würde die Autobahn auch frei sein, so daß er mit vielleicht sechs Stunden Fahrzeit plus Pinkelpausen für die 756 Kilometer rechnete.
Er hatte Tante Annie schon seit einigen Jahren nicht mehr gesehen, gerade man Weihnachtsgrüße ausgetauscht oder ein sehr gelegentliches Telefongespräch mit ihr geführt - so wie er es auch mit seinen wenigen anderen Verwandten hielt, seitdem er für seinen Beruf, also seine Karriere lebte. Früher, als kleiner Junge und auch noch einige Zeit als Jugendlicher, war er verschiedentlich bei ihr zu Besuch gewesen, und die Berge hatten ihn immer fasziniert. Wie anders die Landschaft doch dort war, keine platte Beliebigkeit, sondern sozusagen strukturiert. Es gab ein Oben und Unten, ein Längs und Quer, und je nach Aufenthaltsort sah die Struktur anders aus, die sich eben nicht im bloßen Sich-Erstrecken erschöpfte. Wie oft hatte er damals gestöhnt, wenn er auf einen dieser Berge hinaufsteigen sollte, aber dann der Blick runter, das war überwältigend gewesen, die fernen Schneegipfel der Dreitausender, einmal die Landeshauptstadt tief unten in der Ebene: wie riesig im Fernglas die Zwillingstürme ihrer Hauptkirche über das Häusermeer emporgeragt hatten! Und dann natürlich auch die Bergwirtschaften mit ihrer Bedienung im Dirndl und die Radlermaß, die er sich redlich verdient hatte.
Und seine Tante: sie hatte nie geheiratet - er fragte sich, ob sie je auch nur einen Freund gehabt hatte. Er hatte sie auch nie bei der Arbeit erlebt, denn sie war damals schon frühpensioniert gewesen. Trotzdem hatte sie immer einen geschäftigen und zufriedenen Eindruck gemacht, bis zum heutigen Zeitpunkt mit ihren über 80 Jahren.
Während er so vor sich hin dachte, lag das Horster Dreieck, sonst der Alptraum jedes Vielfahrers, schon weit hinter ihm. Er war diese Strecke schon lange nicht mehr gefahren, sonst nahm er selbstverständlich das Flugzeug, aber das Nachtflugverbot und die ungünstige Verkehrsverbindung zu seiner Tante ließen ihn mit seinem Z 4 schneller sein. Und ihm wurde auch bald bewußt, daß seine Fahrt, noch verstärkt durch das Transportmittel, eine Reise in die Vergangenheit war. Eben war da der Wilseder Berg mit seinen 169 Metern angezeigt gewesen, ein Gipfel seiner Kindheit. Als er dann später an der blauen Tafel mit der Aufschrift „Echte 1000 m" vorbeikam, fiel ihm der Witz seines Vaters ein, dies hier sei der Autobahnurkilometer, der Maßstab für alle Entfernungsangaben. Auch das Kirchheimer und Hattenbacher Dreieck hatten so tief in der Nacht jeden Schrecken verloren. Er glitt über diese Kunstwerke der Fahrbahnverschlingungen einfach hinweg. Überhaupt war „draußen" ganz unwirklich. Er saß bequem da in seinem schwachgrünen „Innen", bewegte gelegentlich das Lenkrad minimal zur einen oder anderen Seite und schnurrte durch eine Nacht, die schwarz mit vereinzelten roten Flecken, gelben Tupfern und weißen Streifen an ihm vorbeizog. Er merkte, daß er sich zusammenreißen mußte und die vorbeihuschenden Schemen von Fahrzeugen, Schildern und Begrenzungspfosten nicht einfach für Requisiten eines Filmes halten durfte, wie er in den frühen Morgenstunden zur Überbrückung der Sendepause von manchen Sendern als Blick durch die Windschutzscheibe einer E-Lok gezeigt wird, wo man jederzeit aufstehen und weggehen kann. Dies hier war wirklich.
Als er sich dem Dreieck Werneck näherte, entschied er spontan, es einmal mit einer für ihn neuen Strecke zu probieren. Er war nun bereits in den Bereich der 70er-Autobahnen gelangt; die A 70, kurz darauf die Einmündung der A 71, später weiter auf der A 73. Um diese Zeit würde es auf dem Schnellweg mitten durch die Stadt keinen Stau geben. In dieser Gegend war er einmal auf der Oberstufenklassenfahrt gewesen. Seine Erinnerungen waren unbestimmt, aber wie von einem Zauber überzogen: Weinberge, Wegkreuze, die Mundart mit ihren Abschleifungen und Umlautungen und dem gerollten R, Orte wie bei Spitzweg. Ein bißchen beneidete er plötzlich die Menschen hier, denen seine Häuser wahrscheinlich nicht besonders gefallen hätten, zu wenig heimelig.
Dann wurde er im ersten Morgengrauen von einem Hochgeschwindigkeitslichterwurm überholt. Auch war schon seit längerer Zeit der Name der Landeshauptstadt als Fernziel angezeigt. Diese Stadt, die so anders war als seine, hatte immer schon eine merkwürdige Anziehungskraft auf ihn ausgeübt: in den Erzählungen seiner Tante von den legendären Schwabinger Krawallen, an denen sie beteiligt gewesen sein soll, später in Form von Besuchen im Deutschen Museum, die der Vater mit dem staunenden Kind unternahm, noch später, als er sich während eines Gastsemesters weniger in den Hörsälen der Ludwig Maximilians-Universität pflichtgemäß aufhielt als sich mit Katrin in den Biergärten und nachts in den Büschen hinter dem Monopteros im Englischen Garten herumtrieb. Er war damals knapp an einer Vaterschaft vorbeigeschrammt, fiel ihm zum ersten Mal seit Jahren siedendheiß wieder ein.
In diesen frühen Morgenstunden konnte er problemlos den Weg über den Mittleren Ring durch die Stadt nehmen, besser gesagt: kilometerweit unter der Stadt hindurchtauchen, da der Richard-Strauss-Tunnel nach endloser Bauzeit nunmehr endlich fertiggestellt worden war. So nah war er Tante Annie räumlich schon lange nicht mehr gewesen. Er wunderte sich plötzlich: Gestern abend hatten er und Claire noch in dieser Bar gesessen und zum Schluß fast in gemeinsamen Tränen gebadet ob des Elends dieser Welt, unter besonderer Hervorhebung des eigenen, verursacht durch die existentielle Einsamkeit des Menschen - und nun fuhr er zu seiner 83jährigen Tante, die ihr Leben immer allein gemeistert hat und ihm nie miesepetrig vorgekommen war. Lag es daran, daß die Menschen hier anders miteinander lebten, besser die Kunst beherrschten, ihr eigenes Leben konstruktiv zu gestalten?
Und dann, kurz vor dem Ziel, die Dämmerung war schon bis zum frühen Morgen vorangeschritten, dieses Bild: Nebelfetzen hingen in den Bäumen des Hausberges, wie hauchdünne Watteflocken, und ihm fiel ein Haiku ein, das er nur auf englisch kannte:
The foggy season
Mount Fuji unseen
More beautiful than ever.
MichaelR
Michael R. - Gastautoren, Menschen im Kiez - 02. Juni 2011 - 19:55
zwei Kommentare
Nr. 2, maho, 08.06.2011 - 01:02 Im Alter wirkt in der Erinnerung halt so Manches umso gewaltiger und aufregender….. |
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Schrecken des Kirchheimer Dreiecks? Wird da diesem hessischem Bergdorf nicht großes Unrecht angetan?
Und so möchte ich noch ergänzend fragend und nicht ohne Ironie erwähnen:
Monopteros ist also ein Rundtempel oder Ziergebäude mit Säulen hinter dessen Büschen sich der sehr geehrte Autor mit Katrin herumtrieb und an einer Vaterschaft, wie er sich siedenheiß erinnerte, vorbeischrammte?!?