Demonstrationen in Tel Aviv: „Something is wrong!“
„Something is wrong!“ - Etwas ist faul im Staate Israel.
„Jeder weiß es“, so die einhellige Meinung aller, mit denen wir sprachen. Bisher schien keine Lösung für die dringenden sozialen Probleme in Sicht, deren herausstechende Merkmale die Wohnungsmieten und die Wohnraumknappheit insbesondere in Tel Aviv sind. An diesen Eckpunkten entzündete sich der schon lange schwelende Konflikt zwischen den verwaltenden Behörden und der nach Veränderung rufenden jüngeren Generation. Plötzlich beherrschen Tausende von Menschen mit Zelten eine der Hauptverkehrsadern von Tel Aviv, den Rothschild Boulevard. Der anfangs gegen die hohen Mieten gerichtete Protest ist nur die Spitze des Eisberges. Schnell wurde deutlich, dass das Unbehagen mehr beinhaltet.
Bezeichnender Weise befinden sich zwischen den Zelten Plakate mit der Aufschrift: "IF I WERE A ROTHSCHILD". Die oftmals, nicht nur in Israel gestellte Frage: „Wo ist die Kohle geblieben?“, bezieht sich hier unmittelbar auf die immensen Kapitalsummen, die das Land aus den USA erhält, und die anscheinend irgendwo in irgendwelchen Taschen versickern. Ohne eine eigene politischen Haltung von Links oder Rechts einzunehmen ist man nicht mehr gewillt, weitere nutzlose Versprechungen und Hinhaltetechniken der politischen Klasse hinzunehmen. Die Wirkungslosigkeit der eingebrachten Veränderungsvorschläge seitens der Studenten und anderer Gruppierungen führte letztlich zu dem Massenprotest. Nun campieren seit Wochen die unterschiedlichsten Gruppen in einmütiger Gemeinschaft auf dem Rothschild Boulevard. Nichts anderes wird gewollt, als den Wünschen nach sozialer Gerechtigkeit Ausdruck zu verleihen. Die in den Papierkörben der Behörden verschwundenen Eingaben und kreativen Lösungsvorschläge erhielten ein Gesicht.
300 000 Teilnehmer einer friedlichen, freudevollen und ruhigen Demonstration am vergangenen Samstag, den 06. 07. 2011, können nicht mehr ignoriert werden. Aufgeschreckt registrierten die Machthabenden eine Volksbewegung, die sich nicht wegleugnen lässt. „THE QUIET MAJORITY WANTS RESET“ - Ein Hauptmotto der Demo, kennzeichnet die Ausrichtung des Protestes.
Es ist das erste Mal, dass sich eine so große Oppositionsbewegung in Israel zu Worte meldet und den Zugang zur demokratischen Mitbestimmung fordert. Und es ist das erste Mal, dass sich ein neues, kreatives und friedliches Bewusstsein auf breiter Basis für einen neuen Umgang mit der Angst äußert. Die allgegenwärtige militärische Macht Israels steht gemeinhin als Symbol der Stärke und der Einheit Israels. Es steht hier nicht zur Diskussion, inwieweit sie ihre Berechtigung hat oder nicht. Wichtig erscheint im Augenblick, dass die jüngere Generation die Nase voll davon hat, ständig über Kriegsbedrohung und mögliche Attentate zu hören. Sie will ihre Ängste nicht durch militärische Stärke kompensieren, sondern einen Wandel herbeiführen. Einer der Leitsätze, die den Protest sichtbar begleiten, macht es deutlich: „ES IST ERLAUBT ANGST ZU HABEN.“ Statt Ängste zu schüren und diese anschließend durch eine scheinbare militärische Sicherheit zu kompensieren, also die Angst zu instrumentalisieren, wird die Angst erlaubt.Und wenn man begreift, dass man Angst hat, so ist der nächste Schritt nicht mehr weit.Man versteht die Angst des gegenüberstehenden, anderen Menschen. Aber will man aus diesen Ängsten heraus gegeneinander gewalttätig werden oder ist nicht besser, miteinander zu sprechen?
„SEIN ODER NICHTSEIN“ - Ein weiterer Leitsatz, keine leere Floskel, versinnbildlicht wie radikal kompromisslos die Situation gesehen wird. Die Existenz des Einzelnen in seiner freien Entfaltungsmöglichkeit steht auf dem Spiel, sollten die Demonstration und die notwendigen Reformen scheitern. Das wird nicht nur von den Initiatoren so gesehen, sondern insbesondere von den Mitstreitern die sich am Sonntagnachmittag, 07.07.2011, bis in den frühen Abend auf der Demo einfanden, um mit Teilnehmern des Protest zu sprechen, die Forderungen zu unterstützen und weiterzutragen. Die Rede ist hier von Dani Karavan, Israels berühmtesten, 1930 in Tel Aviv geborenen Bildhauer, Gabi Salomon, Prof. für Erziehung und Psychologie, Uni Haifa, im Ruhestand, Begründer eines Friedensforschungsinstituts, Yaren Ezrachy, Prof. der politischen Wissenschaften in Jerusalem,Sefi Rachlevsky, Autor und Kolumnist der Ha´aretz: Artikel in der Ha´aretz, 2011, „die Rassisten, die Israel übernehmen, müssen gestürzt werden“, Joshua Sobol, 1939 in Tel Aviv geborener israelischer Autor von Weltgeltung, (u.a. Ghetto unter Peter Zadek in Hamburg am Schauspielhaus).
Hervorheben möchte ich Dani Karavan und Prof. Gabi Salomon, da wir die Gelegenheit hatten, mit beiden nach der Gesprächsrunde zu sprechen. Prof. Gabi Salomon, mit dem wir uns auf Deutsch und Englisch verständigen konnten, kritisierte stark die gegenwärtige israelische Politik. Er zeigte spontane Wut. Die Gefahr bestehe, dass die Gesetzgebung durch immer neue Folgegesetze undemokratische Ziele im Auge habe und dem Menschen die Freiheit genommen wird. Dani Karavan, der seinerzeit mit Joseph Beuys befreundet war, betonte die wichtige Rolle der Bildenden Kunst. Ihre Aufgabe sei es, die freien und kreativen Kräfte im Menschen zu aktivieren und zu stärken, damit der Mensch bewusst und verantwortlich tätig werden kann und seine politische Handlungsfähigkeit aktiv einsetzt.(Man erinnere sich an einen der Kernsätze von Joseph Beuys: Jeder Mensch ist ein Künstler). Es ist zu hoffen, dass Kulturtragende Israels und Politiker mit der notwendigen Weitsicht den Protest progressiv begleiten und ein Scheitern verhindern. Denn wie man weiß und es kennt, mit der entsprechender Perfidität gelang es den Behörden stets als "Agent Provocateur" den friedlichsten Laden aufzumischen.
Ich besuchte vom 21. Juli bis zum 8. August 2011 Israel und das Westjordanland. In der Zeit nahm ich an Demonstrationen teil und habe mit vielen Menschen gesprochen.
Thomas Wiese
Fotos: Gudrun Wagner
Weitere gefundene Presseberichte zum Geschehen in Israel:
* Zeit Online - "Unser Kampf ist ein Puzzlestück einer weltweiten Auseinandersetzung"
* Gentrification Blog - "Tel-Aviv: Zeltstadt gegen steigende Mieten"
* Neue Rheinische Zeitung - "Das Volk verlangt soziale Gerechtigkeit!"
* sueddeutsche.de - "Warum die Proteste in Israel das Land verändern"
T. Wiese - Gastautoren, Gesellschaft - 12. August 2011 - 00:02
Tags: demonstration/gentrification/israel/mieten
Kein Kommentar
Kein Trackback
Trackback link: