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Beate berichtet – ein Essay zur Altersarmut

    Ich sitze an einem sonnigen Apriltag neben Beate in dem schmucklosen Kirchenschiff unter einer fahlen Beleuchtung. Klobige Lautsprecher hängen an den Pfeilern, um jede Woche einmal die Wartenummern der „Tafelkunden“ zu verkünden. Anstelle von Gottes Wort lädt „Laib und Seele“ zur wöchentlichen Berliner Tafel ein. Nicht annähernd so voll ist diese Kirche zu Gottesdiensten, wie sie es zu der Speisung der Armen ist. Weit über 300 Menschen sitzen auf Kirchenbänken und Klappstühlen. Ein Lächeln auf den Gesichtern suche ich vergeblich. Am Eingang werden den Verlierern der Gesellschaft kostenlos Bücher und Kleidung angeboten. Die Klientele hat sich verändert: Man erkennt die besser gekleideten Hartz-IV-Empfänger, man erkennt sie an der Scham, die sich in ihren Gesichtern abzeichnet. Ehe alle Lebensmittel verteilt sind - alle Bedürftige können versorgt werden - sollen Stunden vergehen. Beate hat eine tiefe Nummer, weil sie schwerbehindert ist. Aber auch sie wird heute länger warten müssen, ehe sie von „Engeln“ zu den gefüllten Plastikbehältern der Überflussgesellschaft geleitet wird. Ich habe keine Nummer. Ich darf Recherchen anstellen.

 
   Beate – ich frage sie schamlos aus, nachdem ich feststelle, dass sie zu denen gehört, die ihre Altersarmut ohne Illusionen begegnen – ist 66 Jahre alt, Bezieherin einer stolzen Bruttorente von knapp 750,-- € sowie eines Minijobs, so dass sie sich über die Armutsgrenze hochgearbeitet hat. Beate findet sich in einem Heer von 776.000 der insgesamt 20,3 Millionen deutschen Rentner wieder, die von ihrer Rente nicht leben können und Gelegenheitsarbeiten ausüben müssen; in der Regel unter ihrem früheren Berufs- und geistigem Niveau. Neuerdings machen Hartz-IV-Empfänger den Rentnern diese Minijobs streitig. Eine Konkurrenz der neuen Art, auch hier bei Laib und Seele, wo Hartz–IV-Bezieher auf dem Vormarsch sind. Ich frage mich, wie das Selbstwertgefühl von Menschen aufrechterhalten werden kann, wenn sie aus dem Berufsleben herausfallen, sogar aus ihren Wohnungen, und von Almosen abhängig werden. Dem zu begegnen, spricht man sie als „Kunden“ an und verlangt von ihnen den Obolus von 1,--€. Die Berliner Tafel, Laib und Seele und andere sind karitative Einrichtungen, auf die die deutsche Gesellschaft, im Gegensatz zu den USA, bisher nicht gegründet war. Jetzt werden auch bei uns strukturelle Mängel zur Behebung auf karitative Initiativen abgewälzt. Die Berliner Tafel versorgt 125.000 Menschen mit Lebensmitteln. 16 Jahre nach ihrer Gründung sind die von ihr eingeholten und verteilten Spenden gefragter denn je.

   
   Beate freut sich über die Verkürzung ihrer Wartezeit durch unser Gespräch: „Ich bin arm, ich bin alt“, intoniert sie. „Ich bin altersarm. Die Gesellschaft aber erst macht mich einsam.“ Mit dieser Feststellung hat Beate lakonisch das Kind beim Namen genannt. Ich zeige ihr die Seite Gesellschaft aus meiner Tageszeitung. „Kenne ich. Die habe ich mir heute aus meinem Hotel geholt.“ Beate verrät mir damit, dass sie kein Geld für Tageszeitungen ausgeben muss; sie holt sie sich ab und wann eben aus einem Hotel. In unserer Zeitung also stehen Rezepte zum Kochen in der Krise – gemeint ist die grassierende globale Finanzkrise, nicht etwa die der Armen. „Kartoffelpuffer mit deutschem Kaviar“ werden angeregt. Beate berlinert mich an: „Also weeste, ob deutsch oder russisch – Kaviar seh ick mir bei Rogacki an, wenn ick meenen „Luxustach“ mache.“ Was sie mit „Luxustag“ meine, frage ich. „Na ja, ich setz mich aufs Fahrrad und radele die Feinkostläden ab und schaue mir an, was sie da so anbieten. Am Ende bin ich gebildet und satt.“ An Beatens Bildung hatte ich ohnehin nicht mehr gezweifelt. Aber zufrieden und satt?

   
   Ich denke bei mir, wie gut es so manchem übergewichtigem Wohlstandsbürger täte, nur Augen und Nase zum Essen zu schicken. Man muss ja nicht Kriege und Lebensmittelrationierung beschwören, um Menschen zu verschlanken. Beate und ich lesen, dass diese Krisen-Rezepte noch Zutaten wie Buchweizen, Pastinaken, Olivenöl, Honig, Rotweinessig, Rotwein, Koriandersamen, Kalbsfond, Traubenkernöl, Konbu-Seetang, Weißwein einfordern. „Mensch“, höhnt Beate, „bei ALDIDL jibts ja nich mal Linsen!“ Offensichtlich hat der Koch Peter P. eine wohlhabende, junge Generation vor Augen gehabt, die Krisen-Kochen geil findet und die Zutaten im Bioladen, gar im KaDeWe, kaufen kann. Vielen Menschen in der Kirche hingegen sehe ich die schlechte Ernährung an. Und den Alkohol und die Zigaretten. Beate raucht seit über 20 Jahren nicht mehr und sie verzichtet – der Not gehorchend – indessen auch auf Alkohol. Sie ist es zufrieden, weil auch der billigste Fusel von ALDIDL noch Geld verschlingen würde. Mal ein Bier, mal einen Wein, das muss genügen. Zur Belohnung steht sie morgens ohne Kopfschmerzen auf - fit for the struggle of survival. Beate hat gute Chancen alt zu werden, aber arm und allein. Beate weiter: „Indessen bin ich so sehr auf meine Wohnung und die Gesellschaft meines Katers zurückgeworfen, dass ich mich schon auf die Abwechslung beim Einkauf bei ALDIDL freue. Ich treffe dort Leute aus dem Kiez und Ausländer, die ich sonst nicht treffen würde. Berlin hat sich verändert. Ich nehme es bei ALDIDL wahr.“ Beate bleibt beim Thema Einkaufen und erzählt mir von einem ihrer Lieblingsspiele, die sie entwickelt hat. Sie spielt sie zuhause, sie spielt sie beim Einkauf, sie spielt sie täglich:

   
   „Eines meiner Lieblingsspiele ist „Üppiger Einkauf bei ALDIDL mit dem Rest meines Wochenetats“. Am vergangenen Samstag waren das 9,78 €, ein relativ hoher Betrag für das Wochenende. Der Einkauf bei ALDIDL begann wie immer mit dem Futter für meinen Kater und mit den Grundnahrungsmitteln für mich. Als ich bei 4,31 € angekommen war, entschied ich, 5,-- € für Montag aufzuheben. Ich zahlte eine Rechnung von 4,66 €, nachdem der Quark für 0,35 € noch eingeladen wurde. So einzukaufen bringt Spaß und Training für die grauen Hirnzellen durch das Kopfrechnen. Und der ehemalige Finanzsenator Sarrazin hätte sich bestätigt gefühlt, wenn er von meinem Einkauf erfahren hätte. Wenn ich mit meinen Ausgaben gar auf den Betrag komme, den ich in der Börse trage, ist das wie ein Lottogewinn. Übrigens, Lotto spiele ich auch. Die Leute sehen mir nicht an, wie intensiv ich mich auf das Kopfrechnen konzentriere. Mein Einkaufswagen zeugt von gesunder, spartanischer Lebensweise. Am Montag gab ich noch 4,34 € von den 5,-- € aus. So überbrückte ich die Zeit bis zur Berliner Tafel heute. Hier bin ich an dunklem Brot interessiert. Gemüse gibt es immer zu wenig. Plastiklebensmittel und Süßes lehne ich ab. Ab und wann gibt es Extras: Reinigungsmittel in Plastikflaschen von giftiger Farbe oder ein Pfund Kaffee, der so stark ist, dass ich doppelt so lange mit dem Pfund auskomme. Das macht Sinn. Arme können sich kaum gesund ernähren, auch nicht über die Berliner Tafel. Dort gibt es, streng genommen, Lebensmittel am Verfallsdatum, gar „Lebensmittel-Abfall“, von den Ehrenamtlichen der Kirchengemeinde, ihnen sei Dank, vorsortiert und bereinigt sowie Artikel, die gesunder Ernährung entgegenstehen: parfümierte Joghurt, Fette, Süßigkeiten, Weißbrot und Weißbrötchen ...“. Beates Humor, ihr Durchblick, ihre Zähigkeit beginnen, mir zu imponieren. Ich frage sie nach ihrem „Brot der führen Jahre“.

   
   „Ich bin im Krieg geboren“, vertraut mir Beate an „und das ist ein unschätzbares Kapital im Fall von Alternsarmut. Wir können „organisieren“, und darf sich auch leicht am Rande der Legalität bewegen. Wir können aus einem Nichts ein Etwas zaubern. Wirkliche Armenrezepte kann ich Dir in meinem Kriegskochbuch zeigen, das für die deutsche Hausfrau im Zweiten Weltkrieg aufgelegt wurde. Unser größtes Kapital allerdings ist Gesundheit.“ Ich schaue Beate überrascht an: ich habe ihre Altersangabe zwar zur Kenntnis genommen, aber nicht gerechnet, nicht realisiert, dass sie Kriegskind sei. Diese Generation scheint unverwüstlich zu sein. Jetzt hat sie mich neugierig gemacht mit ihrem „leicht am Rande der Legalität“. Was meint sie damit? Beate ist gut angezogen. Sie hat mir viele Überlebenstricks verraten, wie aber schafft sie es, sich so zu kleiden?

   
   „Meinst Du, ich könnte es mir leisten, die Klamotten, die ich trage, regulär zu kaufen?! Selbst die Zweite-Hand-Läden werden immer teurer, seitdem „verarmte“ Gutverdienende dort „shoppen“ gehen. „Konsumverzicht“ ist jetzt „in“. Ich fahre die Kleidersammlungscontainer am Straßenrand ab. Das begann ich, nachdem ich erfuhr, dass sie an professionelle Kleiderverwerter vermietet werden. Die Leute glauben, ihre abgelegte Kleidung an karitative Einrichtungen zu spenden, machen aber Kommerzielle reich. Den Schaden erleidet das einheimische Textil-Gewerbe in afrikanischen Staaten, indem sie mit unserer Kleidung zugeschüttet werden. Ein Kilo Kleider werden für 1,20 Dollar auf ihren Markt geworfen. In Tansanias Textilindustrie gingen rund 80.000 Arbeitsplätze verloren. Die Individualität Ihrer Kleidung ging verloren, ihre farbenfrohen Stoffe, ihre originalen Gewänder. Mit unseren so genannten „Spenden“ findet eine Nivellierung der Kulturen statt.“ Beate pausiert nicht lange: „Und meine Wohnung sah seit 30 Jahren kein gekauftes Möbelstück mehr. Mein Hausrat stammt von wohlhabende Mietern, den sie beim Auszug im Hof zum Wegwerfen zurücklassen. Besucher staunen immer über den Charme meiner Wohnung. Aber meine Nichte sprach schon vor 20 Jahren voller Verachtung über die „Nachkriegsmentalität“ ihrer Mutter, meiner Schwester. Wenn diese Nichte mich heute erleben würde, sie müsste vor Scham im Erdboden versinken.“ Beate stößt ein meckerndes Lachen aus.


   Beate kennt die Kunst des „Organisierens“ aus der Zeit nach dem Krieg, als ihre Geschwister, mit ihr im Schlepptau, ins Umland zum Hamstern aufbrachen, Prügel bezogen, sich an Züge anhängten, und an der sowjetischen Besatzungsmacht vorbei unverzichtbare Lebensmittel eintauschten oder ergatterten. Sie erinnert sich deutlich, wie sie eine Hand voll Knupper aus dem Seesack stahl und verspeiste, mit dem die Geschwister sie zum Aufpassen im Wald bei Werder abgesetzt hatten. Beate, das gebürtige Kriegskind, wird unruhig, wenn sie ein gewisses Gewicht überschreitet. Der Wohlstandsspeck behindert sie, lähmt sie. Sie ist schlank und agil. Das braucht sie für ihren Überlebenskampf. Ich traue mich kaum noch, Beate die Frage nach dem Luxusgut Reisen zu stellen. Ich frage und erfahre zu meinem Erstaunen, dass sie häufig reise: sie habe sich zuhause fünf Stehordner eingerichtet: Fernreisen, Reisen in Europa, Reisen Inland, Ausflüge in Berlin und Umgebung, Wandern und Radexkursionen. Ihre Vorstellungskraft muss unerschöpflich sein.


   Beate und ich verabreden uns für den nächsten Tag bei ihr, nachdem sie mir berichtete, am 8. März einer Zeitung geschrieben zu haben, um einer Behauptung in einem Artikel zu widersprechen, dass Arme keineswegs auf Kultur verzichten müssten ...“. Armut bedeute durchaus Kulturverzicht, so Beate, weil mehr als eine Eintrittskarte von nur 3,-- € zu einem Kulturerlebnis gehöre. Aber lesen wir Beatens Brief:

   „… Die Armutsgrenze wurde 2005 mit ca. 780,83 €/monatlich beziffert. 12 Millionen Menschen fallen darunter. Das Armutsrisiko in unserem Land beträgt 13 %. Die Durchschnittsrente in den alten Bundesländern betrug im August 2007 790,-- €. Eine eventuelle Grundsicherung (inklusive Wohngeld) füllt ein Monatseinkommen bis vielleicht 800,-- € auf, wenn die Antragsteller über keine Eheleute, keine Ersparnisse, keine Zinsen etc. verfügen. In Deutschlandweit gibt es 732.000 Bezieher von Grundsicherung; davon ist die Hälfte über 65 Jahre alt. 2008 betrug die durchschnittliche Grundsicherung 703,-- €. Nur als Bezieherin derselben mit gibt es ein Sozialticket.


   Sozialvergünstigungen wie die GEZ-Befreiung, wie der Sozialtarif der Telekom sind weggefallen. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer wurde auf uns abgewälzt. 2008 betrug die Teuerungsrate (Inflationsrate) 2,6 %. 2004-2006 gab es drei Nullrunden für die Renten, während Mietkosten, Energiekosten, Sozialversicherungsbeiträge und andere Kosten für eine menschenwürdige Lebenshaltung ständig gestiegen sind. Meine Netto-Rente (Zahlbetrag) hat sich zwischen 2004 und Juli 2008 um ganze 20 Cent erhöht! Die Rentenerhöhungen fangen die Abzüge nicht mehr auf. Räumen wir mit dem Vorurteil auf, alle Rentner hätten ein ausreichendes Einkommen. Hingegen ist die Not alter Menschen eines der bittersten sozialen Probleme, weil sich an ihrem Status und Zustand nichts mehr ändern, jedenfalls nichts verbessern kann. Wenigstens mahnte der Papst am 23. März 2009 Solidarität mit uns Armen an.


   Die Lebenserwartung für Frauen lag 2008 bei 82,1 Jahren. Ich muss mich auf eine lange Lebensendzeit in Armut vorbereiten. Ich musste lernen, mich in meiner Armut einzurichten und mich gegen ständig steigende Kosten und Preise und damit eine sinkende Rente zu wappnen. Als ausgesprochen bedrohlich empfinde ich die Mietsituation in der Hauptstadt. Kreti und Pleti aus dem Ausland und Deutschland ziehen nach Berlin und verderben die Mietpreise, indem sie jegliche Mieterhöhungen akzeptieren. Sie sind aus ihren Städten Miethöhen gewöhnt, die garantiert jeden Geringverdiener überforderten, seine Vertreibung aus dem Kiez vorbereiten und zu Ghettos am Stadtrand führen. Eine Vertreibung aus ihrer Wohnung, ihrer Heimat, bricht alten Menschen aber das Herz.


   Ich habe einen monatlichen, penibel genauen Haushaltsplan erstellt. Danach lebe ich von der Hand in den Mund - ohne Spielraum. Sie würden vergeblich nach Posten für Öffentlichen Nahverkehr, Kino, Reisen, Bioprodukte, für Zahnbehandlungen, für Brillen, für ein neues Fahrrad, für Reparaturen, Renovierungen, geschweige denn Kosten für ein Auto und seine Haltung suchen. Das heißt im Klartext: Ich muss von dem Wenigen noch Geld zurücklegen, habe also die Qual der Wahl, worauf ich verzichten könnte. Ich entschied mich, auf die Ausgaben für Gastronomie zu verzichten, indem ich nicht mehr ausgehe und für meine Radausflüge und Wanderungen Bemme und Thermoskanne einpacke. Meinen Kater ließ ich leben. Meine Liste lege ich ab und wann Menschen vor, die daherplappern, sie hätten auch kein Geld. Es drängt sie, sich bei mir anzubiedern, aber auch, meine Situation ins Reich des „Es kann nicht sein, was nicht sein darf“ zu verdrängen. Sie glauben nicht, welche heilsame Wirkung meine Liste in solchen Fällen hat. Unsere Gesellschaft verlor die Vorstellungskraft darüber, was arm sein bedeutet.“

 
    Ich unterbreche die Lektüre des denkwürdigen Briefes, weil ich mich an einen satirisch dargebotenen Bericht Beatens erinnere: „Das Schlimmste an der Armut ist, zu erleben, wie auf einen Schlag eine gesamte Gesellschaft um Dich herum verarmt, wenn Du Deine eigene benennst. Richtig tragisch ist das. Diese Art der Spontanverarmung belastet mich so sehr, dass ich meine Mitmenschen nicht mehr mit meiner Armut konfrontiere.“ Beate stößt weiter zu: „Das Buch von Bernd Wagner über die Kunst des Überlebens in Armut kann ich mir nicht leisten. Was soll’s - Ich bin als Lebenskünstlerin fortgeschritten genug, um auf das Buch verzichten zu können. Er aber verriet, wo Bärlauch wuchs, woraufhin ich an den Orten nicht einmal mehr Gras vorfinde. Meine wenigen Gäste bewirte ich indessen mit Tee statt wie früher mit Wein. Kürzlich hörte ich im Radio vom Konsumverhalten meiner Zeitgenossen und ihrer Qual bei der Wahl von Markenartikeln. Da sind wir Armen gut dran: bei uns bestimmt der Schnäppchen-Preis das Kaufverhalten, nicht die Marke. Die Suche nach diesen Schnäppchen nennen wir „discounting“. Arme können sich den Kauf von Bioprodukten nicht leisten. Arme haben keinen Spielraum, auf ökologische Energie umzusteigen. Lichtblick und Greenpeace sind für sie nicht bezahlbar. Wenn meine Wohnung auch einmal Blumen schmücken sollen, hole ich sie mir von Friedhöfen, wo recht gut erhaltene Sträuße entsorgt werden, die ich unter den misstrauischen Blicken der Besucher aus Grünabfallbehältern ziehe.“

   
   Es geht noch weiter in Beatens Brief: „Nun werden Sie immer noch das Kulturangebot für Geringverdiener ins Feld führen wollen. Sie liegen völlig richtig: Berlin hat seine Angebote für Geringverdiener, und viele wissen sie zu nutzen. Aber lassen Sie es doch zu dauerhafter Armut kommen und zu weiteren Handicaps und Unbill, die oft aus der Armut resultieren. Armut macht so unsicher, wie Geld Sicherheit geben kann. Ich will Ihnen das enge Korsett aufzeigen, in dem sich Arme bewegen und unter dem sie oft unter Atemnot leiden. Froh macht Armut nicht. „Armut ist nicht nur Mangel an Geld – oft fehlen Perspektiven und Freunde.“ So die Überschrift vom Tagesspiegel vom 17. Februar 2009.

  
   Wenn Kulturveranstalter auch Karten für 3,-- € anbieten, so muss frau immer noch zu den Konzertsälen gelangen. Wenn sie kein Sozialticket hat, und das ist der Fall bei einem zurückgelegten Vermögen von 2.600,-- €, muss sie für den Abend 4,20 € für Verkehrsmittel berappen; dazu kämen Kosten für Programm und Garderobe. Wein trinkt sie, wenn überhaupt, zuhause, nicht etwa mit Freunden anschließend an das Kulturereignis. Aber wenigstens gepflegt möchte sie aussehen. Kurz: dieser Kulturabend kostete sie mindestens 10,-- €, womit der Kulturetat für einen Monat ausgeschöpft wäre – wenn er denn noch zur Verfügung stünde! Mein Kulturprogramm ist garantiert kostenlos, selektiv und auch nur alternativ möglich: Wenn ich dienstags um 13 Uhr nicht bei Laib und Seele sitze, radele ich zu den Lunchkonzerten im Foyer der Philharmonie. Die monatlichen GEZ-Kosten für das Fernsehen kann ich mir übrigens auch nicht leisten.

 
   Ihre Botschaft war, dass wir Armen bitte nicht jammern sollten. Es gibt aber viele Menschen, nicht nur die Älteren, die sich nicht zu Lebenskünstlern eignen. Für viele ist der Kampf um das tägliche Sein schon erschöpfend genug. Sie neigen dazu, sich einzuigeln. Ausgehen muss Spaß machen; Spaß braucht Gesellschaft und kostet mehr Geld als 3,-- €. Ein Abend Kultur verschlingt schnell einen Betrag, der für die wöchentlichen Lebensmittelausgaben notwendig wäre. Auch fand ich in Ihrem Artikel die Absicht versteckt aufzuzeigen, dass Arme gar nicht so „arm dran“ seien, und dass sich nichts Wesentliches an der Verteilung der gesellschaftlichen Güter ändern müsse. Sie wollten nur deutlich machen, dass man an dem enormen Kulturangebot dieser Stadt teilhaben könne. Man müsse nur rege sein. Sich nicht in die Isolation begeben. Armut ist einer wohlhabenden Gesellschaft peinlich und weil sie zunimmt, muss sie als Mangel an Unternehmensgeist denunziert werden.


   Glauben Sie, es verletze den Stolz der Armen nicht, dass Behörden ihre Verhältnisse durchleuchten und in einem Zentralregister speichern? Glauben Sie, es schere sie nicht, dass sie am Ende der Schlange vor der Abendkasse als die erkannt werden, die sich „normale“ Karten nicht leisten können? Warum gehen so viele bedürftige Menschen nie zum Sozialamt? Warum meiden Hartz-IV-Empfänger in der Kirche den Blickkontakt mit anderen? Berlin mag arm aber sexy sein. Auf Menschen trifft das nicht mehr zu. Wie viel verdient der, der diesen Slogan schuf! Das jährliche Durchschnittseinkommen der Berliner beträgt 14.738,-- €, das heißt 1.228,-- € brutto im Monat; das der restlichen Deutschen im Jahr 40.646,-- €, 3.387,17 € brutto im Monat. Die Arbeitslosigkeit in Berlin stieg 2009 auf 14,2 %. Wie krank macht die Armut die hunderttausend dicken Kinder, die unter der Armutsgrenze leben!“

 
    Ich hatte das Glück, in Beate eine Lebenskünstlerin kennengelernt zu haben. „Weißt Du, welches mein Lieblingsspruch ist“, fragt mich Beate zum Abschied: „Lebenslauf, ick erwarte Dir!“ vom Eckensteher Nante.“ Beate und ich werden uns noch viele Male treffen. Ich habe den Eindruck, dass der Umgang mit Beate eine effektive Altersvorsorge ist. Und ich werde sie am Honorar für diesen Essay beteiligen.

 
  
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Studio am Rande
Ute Becker
Schriftstellerin und Essayistin
Berlin-Charlottenburg

Ute Becker (BI Stutti) - Gastautoren, Gesellschaft - 11. Februar 2012 - 00:02
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