Leseempfehlung (13): 3“
Der Blick des Betrachters taucht ganz allmählich aus völliger Dunkelheit heraus, durchläuft als ununterbrochener Zoom mit Lichtgeschwindigkeit eine Strecke von 900.000 Kilometern in den titelgebenden 3 Sekunden und verliert sich am Ende zwischen zwei Spiegeln in gleißendem Licht. Auf seinem Weg wird er an 33 meist winzigen spiegelnden Flächen umgelenkt: Pupille, Fotolinse, Pokal, Puderdosendeckel, Reflektorglühbirne, Goldzahn, Teelöffel …
In den Anfangsbruchteilen der ersten Sekunde schießt der Blick des Betrachters in einem Wohnraum umher und gibt so Gelegenheit, die Ausgangslage der dreisekündigen Ereignisse aus verschiedenen Winkeln zu erfassen: Ein Mann wird von seinem Handy über das Eintreffen einer Nachricht informiert, während ein anderer von hinten die Pistole auf ihn richtet und eine Frau vor Schreck ihre Puderdose fallen läßt. Dann beginnt der Blick immer weitere Kreise zu ziehen, bis hinaus in den Weltraum.
Im Laufe von 600 Bildern – das bedeutet einen zeitlichen Abstand von 5/1000stel Sekunden von Bild zu Bild – registriert der Betrachter im Vorbeiflug Informationen aus Zeitungen, von Werbetafeln, Bildschirmen und herumliegenden Dokumenten – je nachdem seitenrichtig oder -verkehrt – und nimmt abschließend die Veränderungen wahr, die sich in der Sekunde ereignet haben, die der Blick brauchte, um zu einem Satelliten zu gelangen und zur Erde zurückzukehren. Allmählich erschließt sich in der Kombination der Informationen die Geschichte, die hier erzählt wird: die eines Falles von organisiertem Verbrechen im Fußball – sozusagen die Bebilderung der jüngst von Interpol öffentlich gemachten Lage in dieser Sportart.
Bei diesem Comic – besser gezeichneten Roman (graphic novel) – handelt es sich eigentlich um einen s/w-Stummfilm in 600 Standbildern, nüchtern und präzis-realistisch gezeichnet, hart, ohne Grauabstufungen. Es gibt ihn in Buchform und als Internetversion, in der der Betrachter geradezu an seinem Blick durch die Geschichte gesogen wird. Egal, welche der Versionen man wählt, es braucht ein Vielfaches an Zeit, um diese drei Sekunden wirklich zu entschlüsseln, und selbst dann bleiben Zweifel zurück.
Diese Bildgeschichte ist etwas für „Leser“, die Freude am genauen Hinsehen und scharfsinnigen Kombinieren haben. Und wenn man unbedingt will, kann man in ihr auch mehr sehen als nur einen der Form nach höchst reizvollen, den Betrachter intellektuell fordernden und außerdem aktuellen Krimi – nämlich als die zeichnerische Darstellung eines „göttlichen Blicks“ (Berliner Zeitung, 24.7.2012).
MichaelR
Marc-Antoine Mathieu, 3 Sekunden, Berlin (Reprodukt) 2012 – 18 €; Internetversion (Paßwort „33spiegel“)
Originalausgabe 2011 bei Delcourt unter dem Titel « 3’’ » (in der Bibliothek des Institut français); Internetversion (mot de passe « 33miroirs »); Rezension in Planète BD; Interview mit dem Autor beim Internationalen Comic-Festival in Angoulême 2012
MichaelR - Gastautoren, Kunst und Kultur - 22. Februar 2013 - 00:24
Tags: comic/novel/stummfilm
Kein Kommentar
Kein Trackback
Trackback link: