Zum 8. Mai
Am 8. Mai 1945 endete mit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht der II. Weltkrieg auf europäischem Boden, im Pazifik wurde er noch bis zu den US-amerikanischen Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki im August des gleichen Jahres weitergeführt. Der vom III. Reich verursachte Krieg kostete mindestens 60 Millionen Menschen das Leben. In Frankreich, Tschechien und der Slowakei ist der 8. Mai ein Gedenk- und Feiertag. Es sollten 40 Jahre ins Land gehen, bis 1985 ein bundesdeutscher Politiker, der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker, den 8. Mai 1945 als Befreiung vom Hitlerfaschismus auch für Deutschland und die Deutschen bezeichnete.
Integraler Bestandteil der nationalsozialistischen Ideologie war ein aggressiver Antisemitismus, der in der industriell organisierten Vernichtung von geschätzten 6 Millionen europäischer Juden gipfelte. Zu ihnen zählt auch die Lyrikerin Gertrud Kolmar, 1894 in Berlin geboren, 1943 in Auschwitz ermordet. Gertrud Chodziesner, so ihr Geburtsname, war die älteste Tochter eines angesehenen jüdischen Rechtsanwalts und Justizrates; nach dem Besuch der Höheren Mädchen- und Hauswirtschaftsschule 1912 arbeitete sie als Sprachlehrerin, ab 1918 als Dolmetscherin im Auswärtigen Amt. 1917 erschien ihr erster Gedichtband unter dem Pseudonym Gertrud Kolmar. Nach dem Tod der Mutter 1930 arbeitete sie als Sekretärin ihres Vaters. Nach 1933 konnte sie nur noch vereinzelt publizieren, eine mögliche Emigration lehnte sie aus Sorge um den kranken Vater ab. Ab 1941 wurde sie zur Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie verpflichtet, 1943 dann nach Auschwitz deportiert. Am Haus in der Ahornallee 37 im Westend erinnert eine Gedenktafel an Gertrud Kolmar.
Gertrud Kolmars umfangreiches nachgelassenes Werk, das formal durch Sonette und Balladen gekennzeichnet ist, wurde mittlerweile vorbildlich editiert. Zur Illustration ihres dichterischen Schaffens das Gedicht „Die Fahrende“ aus dem Zyklus Weibliches Bildnis, entstanden zwischen 1927 und 1932.
Alle Eisenbahnen dampfen in meine Hände,
Alle großen Häfen schaukeln Schiffe für mich,
Alle Wanderstraßen stürzen fort ins Gelände,
Nehmen Abschied hier; denn am andern Ende,
Fröhlich sie zu grüßen, lächelnd stehe ich.
Könnt’ ich einen Zipfel dieser Welt erst packen,
Fänd ich auch die andern, knotete das Tuch,
Hängt’ es auf einen Stecken, trüg’s an meinem Nacken,
Drin die Erdenkugel mit geröteten Backen,
Mit den braunen Kernen und Kalvillgeruch.
Schwere eherne Gitter rasseln fern meinen Namen,
Meine Schritte bespitzelt lauernd ein buckliges Haus;
Weit verirrte Bilder kehren rück in den Rahmen,
Und des Blinden Sehnsucht und die Wünsche des Lahmen
Schöpft mein Reisebecher, trinke ich durstig aus.
Nackte, kämpfende Arme pflüg’ ich durch tiefe Seen,
In mein leuchtendes Auge zieh’ ich in den Himmel ein.
Irgendwann wird es Zeit, still am Wasser zu stehen,
Schmalen Vorrat zu sichten, zögernd heimzugehen,
Nichts als Sand in den Schuhen Kommender zu sein.
Gertrud Kolmar: Das lyrische Werk. Ausgabe in drei Bänden. Herausgegeben von Regina Nörtemann, 2. Auflage Göttingen 2010, Wallstein Verlag
Andrea Bronstering - Gastautoren, Kunst und Kultur - 08. Mai 2013 - 00:02
Tags: balladen/literatur/nationalsozialismus/sonette/weltkrieg
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