Uhlandstraße 1945
Es gibt einige gesicherte Informationen über den 17jährigen Jugendlichen: Er versteckte sich in den letzten Apriltagen 1945 in einem Keller in der Berliner Straße zwischen Uhland- und Fechnerstraße. Er wurde von der SS dort herausgeholt und an einer Laterne vor dem Haus Uhlandstraße 103 aufgehängt. (Die Straße war damals viel schmäler als heute, so daß die Stelle etwa auf dem Mittelstreifen gelegen hat.) Die Wäscheleine dazu hatte man sich im Haus Berliner Straße 33 beschafft. Um den Hals trug der Jugendliche ein Schild mit dem Text „Ich war zu feige, für Deutschland zu kämpfen.“ Zur Abschreckung ließ man ihn dort mehrere Tage hängen. Bis in die 1950er Jahre legten Anwohner am Todestag an dieser Stelle Blumen nieder und erinnerten mit einem beschrifteten Pappkarton an den Mord.
Gleiches hatte sich auch an anderen Orten in Groß-Berlin ereignet. Bekannt ist der Fall des Obergefreiten Höhne, über dessen Ermordung „Der Panzerbär – Kampfblatt für die Verteidiger Gross-Berlins“ am 25.4.1945 berichtete: „An der Kreuzung der Hauptstraße und des Tempelhofer Weges fand die Berliner Bevölkerung einen am Laternenpfahl mit einer Wäscheleine aufgehängten Soldaten. Den Waffenrock trug er nicht mehr. Am Hosenträger befestigte die Bevölkerung als seine Richter ein weißes Pappenschild mit der Aufschrift: ‚Ich, Obergefreiter Höhne aus Berlin, war zu feige, meine Frau und meine Kinder zu verteidigen‘. Dieses ungewohnte Bild in den Straßen der Reichshauptstadt hat in diesen Tagen seine tiefe Berechtigung. Da hängt ein Deserteur. […] Vorbei ist es mit seinem Traum, sich seiner soldatischen Pflicht zu entziehen, sein Volk im Stich zu lassen und unseren Truppen in den Rücken zu fallen. Wer den Tod in Ehre fürchtet, stirbt ihn in Schande." Eine 91jährige Zeitzeugin erinnert sich 68 Jahre später daran, wie sie damals als 23jährige den toten Soldaten dort hat hängen sehen, und sagt: „Der Schock sitzt noch heute in mir.“ Am 8.5.1985 wurde eine Tafel an der Kreuzung von Dominicus- und Hauptstraße (auf dem Mittelstreifen in Richtung Süden) aufgestellt „zum Gedenken an ihn und an die weiteren vielen unbekannten Opfer, die unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft noch in den letzten Kriegstagen ihr Leben lassen mußten“.
Auch für den unbekannten 17jährigen von der Uhlandstraße soll eine
Gedenktafel entstehen. Bisher kennen wir jedoch weder seinen Namen noch
seine Adresse, ebenso nicht den genauen Tag, den Verlauf der Ereignisse
und die Vorgeschichte. So viel läßt sich jedoch allgemein sagen für die
zweite Hälfte des April 1945 in Groß-Berlin:
Am 16.
April hatte die „Schlacht um Berlin“ begonnen mit der Erstürmung der
Seelower Höhen am Westufer der Oder, 70 km vom Reichstag entfernt. Zu
dieser Zeit waren die westlichen Alliierten bis an die Elbe
vorgedrungen; die deutsche Wehrmacht im Ruhrgebiet hatte bereits
kapituliert. Im Süden war Wien erobert, und die alliierten Truppen
standen in Norditalien. Die deutsche Niederlage stand eigentlich schon
längst fest, dennoch kapitulierte die nationalsozialistische Regierung
auch jetzt noch nicht, sondern versuchte mit militärisch unzureichenden
Mitteln, mit Durchhalteparolen und Gewaltmaßnahmen die Soldaten und die
Bevölkerung dazu zu zwingen, den aussichtslosen Kampf fortzusetzen.
Zwei Tage nach Beginn der Schlacht um Berlin waren die Seelower Höhen erobert; am vierten Tag, dem 20. April, wurde der Belagerungszustand in Groß-Berlin ausgerufen, aber schon einen Tag später drangen die Rote Armee und polnische Truppen in die Randbezirke ein. Am 25. April war schließlich die Einkesselung der Reichshauptstadt bei Ketzin westlich von Potsdam abgeschlossen. Am 28. überschritten die sowjetischen Truppen in breiter Front zwischen Innsbrucker Platz und Halensee die Verteidigungslinien entlang dem S-Bahn-Ring. Die Straßen rund um die Kreuzung Berliner/Uhlandstraße waren am 30. April erreicht.
Im
Schicksal des 17jährigen Jugendlichen trafen sich die erwähnten
unzureichenden militärischen Mittel und die Gewaltmaßnahmen zur
Fortsetzung des Krieges. Am 9. März hatte der „Kampfkommandant von Berlin“, in Absprache mit A. Hitler, befohlen:
„Die Reichshauptstadt wird bis zum letzten Mann und bis zur letzten
Patrone verteidigt.“ Dazu wurden auch Jugendliche der Jahrgänge
1927/1928, zu denen der 17jährige gehörte, herangezogen, selbst noch in
den letzten Tagen des April. In einem Tagebuch heißt es am 24.4. dazu:
„H. H. hält sich zu Hause auf, damit sie ihn nicht noch zum Volkssturm
holen.“ (1) Der Volksturm war im Oktober 1944 gebildet worden aus allen
„waffenfähigen Männer im Alter von 16 bis 60 Jahren“, um den
„Heimatboden“ zu verteidigen. Sie waren schlecht ausgebildet und
ausgerüstet und hatten daher, als sie während der Schlacht um Berlin zum
Einsatz kamen, hohe Verluste (2).
Ist es möglich, daß der junge Mann zum Volkssturm gehörte, er aber deshalb, weil es dort auch an Bekleidung mangelte, von irgendwoher die zu große Jacke der Waffen-SS zugeteilt bekommen hatte, die er im Keller trug? Oder war er zum Eintritt in die Waffen-SS genötigt worden? Es kann auch sein, daß er sich freiwillig gemeldet hatte. Denkbare Gründe dafür sind, wie oben schon angedeutet, daß es sich beim Volkssturm um einen bunt zusammengewürfelten Haufen handelte, ohne Zusammenhalt und richtige Waffen, in dem die Überlebenschancen gering waren. Und ein wesentlicher Punkt ist: Als die Nationalsozialisten 1933 die Macht übernahmen, war der 17jährige erst fünf Jahre alt, hatte also praktisch sein ganzes Leben unter der Nazi-Propaganda verbracht , was auch den Glauben an den „Endsieg“ mit einschloß (3). Eine kritische Haltung wird er nicht haben entwickeln können – da ging es ihm so wie dem gleichaltrigen Günter Grass, der mit 17 Jahren der Waffen-SS beigetreten war (4). Von ihren Verbrechen wird er wohl nichts gehört haben und daran teilgenommen auch nicht. Was aber das Wichtigste ist: Er hatte sich in einem Keller versteckt, wollte also nicht (mehr) kämpfen und bis zum blutigen Ende mitmachen. Die genauen Gründe sind uns unbekannt – ob er den Krieg als verloren ansah oder einfach überleben wollte oder sonst einen Grund hatte. Was für uns heutzutage allein zählen sollte, ist, daß er sich der Fortsetzung des Krieges verweigert hat.
Schließlich ist
uns auch unbekannt, wie es zu seiner Verhaftung kam. Es kann sein, daß
Insassen des Schutzkellers Angst davor hatten, sowjetische Soldaten
könnte den jungen Mann bei ihnen finden und sie dann alle erschießen.
Vielleicht hat auch eine Patrouille auf der Suche nach Fahnenflüchtigen
ihn aufgegriffen, mitgenommen und standrechtlich oder ohne weiteres
aufgehängt. Dazu aufgerufen war sie ja von A. Hitler, der in der ersten
Ausgabe des „Panzerbären“ vom 23.4.1945
befohlen hatte: „Eine ernste Mahnung des Führers! Merkt Euch! Jeder,
der Massnahmen, die unsere Widerstandskraft schwächen, propagiert oder
gar billigt, ist ein Verräter! Er ist augenblicklich zu erschiessen oder
zu erhängen! Führerhauptquartier, den 22-4-1945 gez. Adolf Hitler"
Noch lange Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in der BRD Deserteure in der Öffentlichkeit als Vaterlandsverräter und Feiglinge geschmäht. Erste Initiativen für Deserteurdenkmäler entstanden Anfang der 1980er Jahre als Reaktion auf den Nato-Doppelbeschluß von Dezember 1979. Seitdem begann eine bundesweite Diskussion in Öffentlichkeit und Wissenschaft über die Einschätzung der Deserteure in Nazi-Deutschland. Eine wichtige Folge davon und gleichzeitig ein Beitrag zu einer neuen Sicht auf die Deserteure war das Urteil des Bundessozialgerichts vom 11.9.1991 mit der Feststellung, daß jeder, der im NS-Unrechtsstaat die Truppe verließ oder den Gehorsam verweigerte, Widerstand geleistet habe und folglich ein Anspruch auf Entschädigung entstanden sei. Mitte der 90er Jahre sah laut Umfragen bereits fast die Hälfte der Deutschen Deserteure als Widerständler bzw. als Helden an. Aber erst 53 Jahre nach Kriegsende, 1998, beschloß der Bundestag ein mehrfach nachgebessertes Gesetz, in dem u.a. die Urteile der Standgerichte pauschal aufgehoben wurden.
Ein erster Versuch, an den 17jährigen Jugendlichen zu erinnern, hatte die Friedensinitiative Wilmersdorf 1995 mit einem Antrag an das Bezirksamt Wilmersdorf auf eine Gedenktafel für ihn unternommen. Der Antrag wurde damals wegen der Waffen-SS-Jacke abgelehnt.
Jetzt soll ein neuer Versuch unternommen werden.
Um noch mehr über den jungen Mann zu erfahren, bitten wir, daß Zeitzeugen, die selbst davon wissen oder davon gehört haben, sich melden beim Aktiven Museum e.V., Stauffenbergstr. 13-14, 10785 Berlin (E-Mail: info@aktives-museum.de). Auch um Spenden für die Herstellung einer Gedenktafel bitten wir auf das Konto des Aktiven Museums e.V. Nr. 610012282 bei der Berliner Sparkasse (BLZ 10050000), Verwendungszweck: „Uhlandstraße 1945“.
MichaelR – Fotos: privat
Ich danke Frau Laura v. Wimmersperg, Herrn S. B. und Frau B. sehr herzlich für die Gespräche, die eine wesentliche Grundlage dieses Artikels sind, und der Friedensinitiative Wilmersdorf für die Überlassung der beiden Fotos.
Der Dank schließt auch die folgenden Medien ein, die die Suche nach Zeitzeugen unterstützt haben, wobei es bereits die ersten Meldungen gibt: Pressestelle des Bezirksamts, Berliner Woche, junge Welt, Berliner Partner – Partner für regionale Wirtschaft, Berliner Abendblatt (S. 3), Tagesspiegel, Berliner Zeitung, 3.7.2013, S. 17, Berliner Morgenpost.
(1) Bleib übrig, S. 29: Tagebuch Ett Schul-Koall
(2) Ebd.: Tagebuch Hertha v. Gebhardt (24.4.1945): „Durch die Straßen ziehen Trupps von 14-16 jährigen Bürschchen, die zur Schlachtbank geführt werden. Die erwachsenen Volkssturmleute werden rechtzeitig die Waffen wegwerfen, soweit sie welche haben, aber diese in der HJ erzogenen Kinder?“ – S. 35: Flugblatt der Roten Armee (Ende April über Berlin abgeworfen): „Volkssturmmänner! Erhaltet Euer Leben und das Leben Eurer Angehörigen. Geht heim zu Euren Familien! Versteckt Euch! Merkt Euch: Je länger Ihr Widerstand leistet, desto mehr Opfer und Zerstörung wird es in Berlin geben.“
(3) Einen plastischen Eindruck von Einstellungen und Erfahrungen eines 17jährigen (Jahrgang 1927) in den Jahren 1944/45 vermittelt S. Burmester in seiner Autobiographie, wo er auf S. 38-60 von Flakhelfereinsatz als 16jähriger, Reichsarbeitsdienst, Eintritt in die Waffen-SS und Einsatz an der „Hauptkampflinie“ im Kessel von Halbe berichtet.
(4) Einen detaillierten Überblick über die Reaktionen in deutschen und ausländischen Medien von Grass‘ Interview am 12.8.2006 an bis zum 22.8. gibt es im „Perlentaucher“.
Materialien:
Gespräche mit drei Zeitzeugen
Atlas zur Geschichte, Bd. 2, Gotha/Leipzig (VEB Hermann Haack Geographisch- Kartographische Anstalt) 1978, S. 44 II
Bleib übrig. Ende und Anfang. Berlin-Wilmersdorf im Jahr 1945. Eine Dokumentation, hg. vom Arbeitskreis Geschichte Wilmersdorf, Berlin (Omnis-Verlag) 1999 [Stadtbücherei: H 260 Blei]
Burmester, Siegfried, Ein Leben zwischen Irrtum und Hoffnung, Sangerhausen (Ed. Neue Wege) 2002
Die anderen Soldaten. Wehrkraftzersetzung, Gehorsamsverweigerung und Fahnenflucht im Zweiten Weltkrieg, hg. von Norbert Haase/Gerhard Paul, Fischer Taschenbuch 12769 (1995), S. 189 ff. [Gesch 432 Ande]
Kamke, Hans-Ulrich/Sigrid Stöckel, Wilmersdorf, (West)Berlin (Colloquium-Verlag) 1989, S. 105 [H260 Kamk]
Lexikon der Wehrmacht: Volkssturm (zur Diskussion über die Benutzbarkeit dieses Lexikons als Quelle bei Wikipedia siehe hier)
Panse, Helmut, Daß man schließlich überlebt hat, war auch ein bißchen Glück, in: Bleib übrig, S. 72
Rundbrief der Friedensinitiative Wilmersdorf, Februar 1995 und Juli/August 1995
Wilmersdorf. Alltag und Widerstand im Faschismus, hg. von einer Arbeitsgruppe der Friedensinitiative Wilmersdorf und der VVN Westberlin – Verband der Antifaschisten, Berlin (West) 1983, S. 53 [H 260 Wilm]
Wikipedia, Fahnenflucht, Nato-Doppelbeschluß, Schlacht um Berlin, Volkssturm, Waffen-SS
MichaelR - Gastautoren, Geschichte - 05. Juli 2013 - 00:24
Tags: gedenken/gedenktafel/kriegsende/nationalsozialismus
drei Kommentare
Nr. 2, jn, 18.10.2014 - 14:13 ..es ist geschafft : (vermutlich,aber man weiß ja nie…) http://www.tagesspiegel.de/berlin/bezirk.. |
Nr. 3, jn, 10.11.2014 - 19:22 Berliner Woche: http://www.berliner-woche.de/nachrichten.. |
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die last der geschichte : bald “aufgehoben” ?
http://www.abendblatt-berlin.de/2014/10/..