Uhlandstraße 1945 (4) – Stand der Dinge im Mai 2014, zehn Monate nach Antragstellung
Die Gedenktafel für den 17jährigen ermordeten Deserteur war zum letzten Mal am 30. Januar 2014 auf der Tagesordnung der Gedenktafelkommission. Es stellte sich heraus, daß der einstimmige Beschluß vom September 2013, sich erst einmal einen Überblick über alle Gedenktafeln im Bezirk zu verschaffen, von der dazu beauftragten Leiterin des Kunstamtes überhaupt noch nicht in Angriff genommen worden war, weil sie „noch anderes zu tun habe“. Es werde daher „noch länger“ dauern, aber sie habe bereits eine Historikerin, die „von außen“ finanziert werde und sich der Angelegenheit annehme, jedoch „vor dem Sommer“ nicht damit fertig sein könne, weil dies ein „Riesenaufwand“ sei.
Das erstaunt sehr, denn es gibt bereits zwei umfassende Auflistungen aller Gedenktafeln im Bezirk: vom Bezirksamt selbst und von der Gedenkstätte Deutscher Widerstand (mit umfangreichem Material). Und zusätzlich erstaunt der Beschluß, weil dabei eigentlich allen Mitgliedern der Gedenktafelkommission klar war, daß es im ganzen Bezirk keine einzige Gedenktafel gibt, die einen ermordeten Deserteur ehrt – und trotzdem halten alle zäh an dem Beschluß fest, weil man ihn nun doch einmal gefaßt habe. Warum nur diese umfangreiche Verzögerungstaktik? (1)
Verzögerungsgründe in der Gedenktafelkommission
Da ist zum einen die in der Gedenktafelkommission geäußerte Sorge, daß dann für jeden einzelnen ermordeten Deserteur eine Gedenktafel gefordert werden könnte – eine Sorge, die in diesem Schreiben sehr beredt zum Ausdruck kommt:
„Wenn wir für jeden toten Deserteur eine Gedenktafel errichten, erkennen wir die Straßen und Wege nicht mehr.“ (2)
Und in letzter Zeit hört man, daß in der Gedenktafelkommission von einigen die Ansicht vertreten wird, der 17jährige habe doch sicherlich unter militärischer Befehlsgewalt gestanden und sich folglich dadurch, daß er sich in einem Luftschutzkeller verborgen hatte, dieser Befehlsgewalt unberechtigt entzogen. Ist den betreffenden Mitgliedern nicht bewußt, daß dieser Krieg ein verbrecherischer Angriffs- und Vernichtungskrieg war, „in dem jeder Widerstand, auch der des einfachen Ungehorsams oder des Verlassens der Truppe mit Todesstrafe geahndet wurde und daher auch rückschauend als Widerstand gegen ein Unrechtsregime“ anzuerkennen ist, wie es das Bundessozialgericht bereits in seinem Urteil vom 11.9.1991, also vor über zwanzig Jahren, formulierte? Die Forschung geht von 23.000 solchen vollstreckten Todesurteilen aus. Haben manche so wenig aus der Geschichte gelernt? (3)
Und die Rathausparteien?
Und wie sieht es bei den Parteien selbst aus, von denen diese Vertreter in die Kommission geschickt wurden? Ich hatte daher Ende Februar dieses Jahres allen vier Fraktionen (und der fraktionslosen Verordneten) angeboten, zu ihnen zu kommen und ihre möglichen Bedenken mit ihnen zu diskutieren. Hier das Ergebnis:
- Als erstes reagierte die Verordnete der Linkspartei und sicherte ihre volle Unterstützung zu.
- Die CDU teilte mir am 2. März mit:
„Ihrem Anliegen steht die CDU -Fraktion grundsätzlich positiv gegenüber. Dies wurde im zuständigen Gremium so auch geäußert. Unsere Fraktion möchte nun die vereinbarten , Ihnen ja auch bekannten , Recherchen abwarten, um sich dann eine abschließende Meinung zu bilden wie Ihr Anliegen umgesetzt werden soll / werden kann. Sollten wir nach dem Vorliegen der Ergebnisse noch Fragen oder Diskussionsbedarf haben, kommen wir gern auf Ihr Gesprächsangebot zurück.“
- Die Antwort der Grünen Partei vom 19. März lautete:
„Ich habe Ihnen bereits mitgeteilt, dass auf Seiten der grünen Fraktion Symphatie für das Anliegen besteht. Die grünen Fraktionäre im Kulturausschuss sehen sich ausreichend informiert. Das Thema wird in der Gedenktafelkommission das nächste Mal behandelt.“
(Auf der dem Schreiben fünf Tage später folgenden Sitzung der Kommission am 24. März war die Gedenktafel allerdings nicht auf der Tagesordnung.)
- Die Piratenpartei hat auch nach der zweiten Anfrage nicht geantwortet.
- Einzig die SPD lud mich Anfang März in eine Sitzung ihres Fraktionsarbeitskreises Kultur ein. Es gab eine nur ansatzweise Diskussion, die damit endete, daß man allgemein darin übereinstimmte, es sei
„sinnvoll, daß dort [gemeint: Uhlandstraße 103] etwas hinkommt. Aber es muß erst noch in der Fraktion diskutiert werden.“
Ich solle im April oder Mai über das Ergebnis informiert werden. Seitdem war nichts mehr zu hören.
Im Ergebnis läßt sich sagen: Keine der vier Fraktionen hat sich wirklich auf eine Diskussion mit mir als Bürger eingelassen, sie in der Mehrheit sogar ausdrücklich abgelehnt. Äußerungen wie „grundsätzlich positiv“, „Sympathie“, „sinnvoll“ klingen ja erst einmal gut, sind aber doch letztlich die üblichen nichtssagenden Floskeln. Alle vier Fraktionen interessieren sich offenbar nicht wirklich dafür, was ein Bürger hier vorschlägt, sondern nehmen das bestenfalls als Anlaß, um damit eigene Pläne zu verfolgen, die man dann dem Bürger vorsetzt.
Ein Brief von Bürgern an die Gedenktafelkommission
Nach diesen Erfahrungen mit unseren Volksvertretern haben wir zu dritt einen Brief verfaßt, den wir überall dort vorlegen, wo wir Menschen im Alltag treffen: in der Familie, bei Nachbarn, Freunden, Kollegen, in Sportverein, Gewerkschaft und Gemeinde, bei Veranstaltungen, in der Kneipe. Der Brief soll den Mitgliedern der Gedenktafelkommission zeigen, daß es viele Bürger gibt, die es wichtig finden, derjenigen mitten in der Stadt dort zu gedenken, wo sie sich als Soldat oder Zivilist dem Krieg verweigert haben und dafür ermordet wurden. Der Brief lautet:
Eine Gedenktafel für einen 17jährigen vor Uhlandstraße 103 in Berlin-Wilmersdorf!
In den letzten Kriegstagen im April 1945 wurde vor dem Haus Uhlandstraße 103
ein 17jähriger erhängt. Die SS hatte ihn in einem Keller in der Berliner Straße
gefunden, wo er sich versteckt hatte. Ihm wurde ein Schild um den Hals gehängt:
„Ich war zu feige, für Deutschland zu kämpfen“. Seine Leiche ließ man zur
Abschreckung einige Tage dort hängen.
Bis in die 50er Jahre hinein legten Wilmersdorfer Bürger an seinem Todestag dort
Blumen nieder und erinnerten anstelle einer Gedenktafel mit einem beschrifteten
Pappkarton an den Mord.
Wir meinen: Es ist Zeit, seiner dort dauerhaft zu gedenken - zusammen mit all den
anderen, die sich dem Krieg verweigert haben und in den Straßen der Stadt dafür
ermordet wurden. Daher unterstützen wir - gemeinsam mit dem Aktiven Museum
e.V., der Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz, der Gedenkstätte Deutscher
Widerstand und der Berliner VVN-BdA - diese Initiative für eine Gedenktafel.
Jeder, der dieses Anliegen unterstützen will, kann es mit einer Email an diese Adresse tun: uhlandstrasse1945@gmx.de.
Eine Vielzahl von Menschen hat es bereits getan, unter ihnen die Bezirksverordnete Marlene Cieschinger (Die Linke), Martin Delius, MdA (Piratenpartei), Prof. Matthias und Sooki Koeppel, Dr. Hubert Kolland (Präsident des Landesmusikrats Berlin), Margarete Koppers (Polizeivizepräsidentin von Berlin), die Bezirksverordnete Nadia Rouhani (Bündnis 90/Die Grünen), Niklas Schenker (Vorsitzender des Kinder- und Jugendparlaments), Monika Thiemen (Bezirksbürgermeisterin a.D. und Vorsitzende des Heimatvereins für den Bezirk Wilmersdorf), Dr. Burkhart Veigel (Arzt, Musiker, EDV-Entwickler, Schriftsteller, Historiker) und Prof. Dr. Michael Wildt, Humboldt-Universität Berlin. Allen sei herzlich gedankt für ihre Unterstützung! Der Brief geht mit der Gesamtheit der Unterschriften in nächster Zeit an die einzelnen Mitglieder der Gedenktafelkommission. Zu den unterstützenden Organisationen sind jetzt noch das Kinder- und Jugendparlament Charlottenburg-Wilmersdorf und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Landesverband Berlin (GEW Berlin) hinzugekommen (die Schreiben werden demnächst hier veröffentlicht).
P.S.
Mit dem Brief habe ich mich auch an die Abgeordnetenhausmitglieder gewandt, die ein Bürgerbüro in der Nähe des Tatortes haben:
- Martin Delius (Piratenpartei) – er hat Ende April dieses Anliegen unterstützt und will jetzt seine Parteikollegen vor Ort motivieren …
- Stefan Evers (CDU) – er will erst einmal alles genau überprüfen und bei den im Brief genannten Organisationen nachfragen, dann alles im Kreisverband besprechen, und Anfang Juni soll seine Antwort eintreffen …
- Franziska Becker (SPD) – sie hat parteiinterne Gespräche und bis zum 19. Mai eine Antwort zugesagt …
Dieselbe Anfrage auch bei den Direktkandiaten des Bundestagswahlkampfs 2011 für den Wahlkreis 80 (Charlottenburg-Wilmersdorf ohne Charlottenburg Nord): Lisa Paus (Grüne Partei, MdB) und Ülker Radziwill (SPD, MdA) sowie Klaus-Dieter Gröhler (CDU, MdB ; sein Mitarbeiter hat für den 20. Mai einen Rückruf in Aussicht gestellt).
MichaelR
(1) Ganz anders läuft es, wenn die Rathausparteien selbst Anliegen haben: Beispiel Grüne Partei: am 12.12.13 in der BVV, am 7.5.14 zum zweiten Mal im Kulturauschuß behandelt; Beispiel SPD: am 16.1.14 in der BVV, am 7.5. zum zweiten Mal im Kulturausschuß behandelt.
Die Bestrebungen, für das 17jährige Mordopfer ein dauerhaftes Gedenken zu schaffen, laufen hingegen schon seit über 30 Jahren, angefangen mit der senatsfinanzierten Broschüre „Wilmersdorf. Alltag und Widerstand im Faschismus“, hg. von einer Arbeitsgruppe der Friedensinitiative Wilmersdorf und der VVN Westberlin-BdA (1983) [Signatur der Stadtbibliothek: B 152 Wil Wilmersdorf].
(2) Zutreffend ist, daß gerade in diesen letzten Kriegstagen eine große Zahl an Soldaten, die endlich mit dem Krieg aufhören wollten, dafür ermordet wurden. So berichtete Prof. Hartmut v. Hentig, wie er als junger Mensch durch die Warschauer Straße marschieren mußte und dort an jedem Laternenmast einen deutschen Soldat hängen sah.
Aber 69 Jahre nach Kriegsende ist die meiste Erinnerung verlorengegangen, so daß es zu so vielen Mahnmalen nicht kommen wird. Daher bezieht der Textvorschlag für die Gedenktafel auch alle anderen Opfer mit ein:
Hier wurde in den letzten Tage des April 1945
ein 17jähriger von Nationalsozialisten aufgehängt.
Zur Erinnerung an ihn und alle anderen,
die sich der Teilnahme am Krieg entziehen wollten
und deshalb ermordet wurden.
(3) Da verwundert es nicht mehr, daß beharrlich daran festgehalten wird, die Sitzungen der Gedenktafelkommission nichtöffentlich stattfinden zu lassen, und daß seit der Neukonstituierung im Oktober 2011, also in über zweieinhalb Jahren, noch nie ein Gast eingeladen wurde. Selbst die Protokolle werden geheimgehalten.
MichaelR - Gastautoren, Geschichte - 18. Mai 2014 - 18:02
Tags: gedenken/kriegsende/nationalsozialismus
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In dem Rundbrief, den Herr Roeder kürzlich an alle Unterstützer der Gedenktafel verschickte, konnten wir lesen: "Es gibt keine veröffentlichten Protokolle, es gibt keine Antworten auf Anschreiben von Organisationen, die sich für eine solche Gedenktafel aussprechen, und es gibt noch nicht einmal eine Einladung an Initiator und Gäste, um über das Anliegen zu diskutieren." – Ich empfinde das als Schande! Erinnert sei hingegen an dieser Stelle an den erst vor kurzem verlegten Stolperstein Gunter Demnigs für den Widerstandskämpfer Karl Hirschberg in der Görlitzer Straße 43 in Kreuzberg, über den die Berliner Zeitung in einem Artikel berichtete. Vielleicht könnte diese Aktion für all die Unentschlossenen anregend sein?
Dr.N.Messerschmidt (Soziologin)