Straßen und Plätze: Nassauische Str. 41-44
Die Nassauische Straße in Wilmersdorf entstand in ihrer heutigen Form aufgrund zweier Umstände: Zum einen befand sich hier schon im 18. Jahrhundert ein Weg, der durch ein Sommer Feldt zum nördlich von Willmersdorff gelegenen sumpfigen Hopfen Bruch führte (S. 24 - die Karte von 1772 ist gesüdet). Eine Karte von 1842 zeigt, daß dieser Weg 70 Jahre später bereits durch den Hopfenbruch hindurch bis zum Churfürsten Damm weitergeleitet ist:
Der zweite Umstand, der zum heutigen Aussehen dieser Straße führte, war
die Idee der Villen- oder Landhauskolonie, die der Unternehmer und
private Stadtentwickler Johann Anton Wilhelm von Carstenn-Licherfelde
(1822-1896) auch (1) auf dem ehemaligen Rittergut Wilmersdorf umsetzen
wollte als Antwort auf die rasche Entwicklung Berlins als Hauptstadt des
neugegründeten Deutschen Reiches und die darauf folgenden steigende
Nachfrage bürgerlicher Kreise nach besseren Wohnbedingungen, als sie die
Stadt bot. Dieses Rittergut bestand aus zwei Teilen, beide östlich vom
Dorf Wilmersdorf gelegen: der nördliche Teil zwischen Lietzenburger und
Güntzelstraße, der südliche zwischen Volkspark und
Walter-Schreiber-Platz.
Die Straße von 1870 bis nach dem Ersten Weltkrieg
Carstenn kaufte 1870 das Gut und ließ die Bundesallee (damals Kaiserallee) sowie die beiderseits von ihr gelegenen und heutzutage als Wilmersdorfer bzw. Friedenauer Carstenn-Figur bekannten symmetrischen Systeme von Straßen und Plätzen anlegen (2). Die daran angrenzenden Gebiete, darunter die Nassauische Straße, waren mit einbezogen in die Planung. Im sog. „Gründerkrach“ von 1873 ging Carstenn jedoch bankrott, und die Schaffung der Landhauskolonie („Wohnen im Grünen“) fand infolgedessen so gut wie nicht statt. Die Straßen (das galt besonders für den nördlichen, Wilmersdorfer Teil samt Umgebung) führten vielmehr jahrzehntelang nahezu unbebaut durch Wiesen, Felder und den Hopfenbruch. Die Folge war, daß sie in einen desolaten Zustand gerieten.
Ende 1886 bildete sich ein „Gemeinnütziger Verein“, der für die Wiederherstellung der Straßen, die Erschließung des Areals nach modernen Gesichtspunkten und einen besseren Verkehrsanschluß an Berlin sorgte sowie einen Bebauungsplan für die gesamte Gemarkung von Wilmersdorf entwickelte, der 1895 schließlich in Kraft gesetzt wurde. Dieser Stadtplan von 1897 zeigt den Stand der Bebauung kurz danach: noch fast keine Gebäude, aber immerhin durchfährt bereits eine Pferdestraßenbahn die Nassauische Straße.
Die Entwicklung des Gebietes durch den „Gemeinnützigen Verein“ und insbesondere der Bebauungsplan heizten jedoch die Grundstücksspekulation an, so daß aufgrund der hohen Bodenpreise weiterer Villenbau gar nicht mehr infrage kam; nur Miethäuser waren noch rentabel. Das bedeutete in dieser (zweiten) Bebauungsphase ab 1895 (3): 5geschossige Gebäude mit 8- bis 12-Zimmer-Wohnungen für ein bürgerliches Publikum (und Hinterhöfe). Am Ende des Ersten Weltkrieges hatten sich jedoch die Ansprüche an Wohnraum und die Vorstellungen von Wohnhausbau gewandelt, so daß ab 1918 eine dritte Bebauungsphase zu erkennen ist. Sie war gekennzeichnet durch Großwohnanlagen (ohne Hinterhöfe) mit Kleinwohnungen. In diese Phase fällt der Bau von Nassauische Straße 41 bis 44.
Der Straßenname
Vor 1870, als Carstenn das Rittergut kaufte, hieß die Straße entsprechend den örtlichen Gegebenheiten schlicht Buschweg. Ab dann trug sie einen richtigen Namen: die ersten sechs Jahre Braunschweiger Straße, ab 1876 für zehn Jahre Wilmersdorfer Straße. Zum 20jährigen Annexionsjubiläum im Jahr 1886 wurde sie schließlich nach dem ehemaligen Herzogtum Nassau Nassauische Straße benannt. Dieses Herzogtum (Lage: Taunus und Westerwald, Hauptstadt: Wiesbaden) bestand 60 Jahre lang, von 1806 – nach Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation auf Napoleons Verlangen gebildet – bis 1866, als Nassau im preußisch-österreichischen Krieg auf der Verliererseite stand und dafür von Preußen zu einem Bestandteil der Provinz Hessen-Nassau gemacht wurde.
Haus 41-44 (4)
Der Bauantrag für das denkmalgeschützte Wohnhaus mit Garagengebäude wurde am 13.3.1929 gestellt und am 4.5.1929 genehmigt (Bauschein Nr. 255). Bauherr war Senator Broder Volquardsen, der Architekt Peter Jürgensen (Mitglied des Bundes Deutscher Architekten und der Akademie des Bauwesens) (5). Das gesamte Projekt umfaßte ein Vorderhaus mit Mietwohnungen, die Garagenanlage für ursprünglich ca. 170 Wagen und eine Tankstelle. Fertiggestellt wurde die Großgarage bis spätestens Juni 1930. (6)
Die verputze Fassade des langgestreckten 5geschossigen Wohnbaus ist relativ unauffällig. Gegliedert wird sie dadurch, daß der Mittelteil des Gebäudes mit zwei der vier Treppenzugänge etwas zurückgesetzt ist und sich außerdem über diesen beiden Zugängen jeweils Erker mit Loggien und Balkonen befinden. Was das Gebäude jedoch augenfällig von anderen Wohnhäusern unterscheidet, sind die zwei hohen Tordurchfahrten in jedem der beiden seitlichen Bauteile. Diese Einfahrten führen jeweils zu den Parkebenen in Keller und Hochparterre. Auf der unteren Ebene liegen die Garagen an zwei Gassen, auf der oberen an einer.
Die Blicke vom Nebengrundstück und von rückwärts zeigen, daß die Garagenanlage eine erheblich größere Fläche als das Wohngebäude einnimmt und selbst ihr Untergeschoß deutlich aus dem Boden herausragt.
Um 1930 wurden in Berlin ca. 400 Garagen betrieben, darunter auch mehrere vergleichbare Anlagen. Oft hatten solche Großgaragen jedoch nur ein Kellergeschoß und nicht wie hier ein zusätzliches Hochparterre. Heutzutage gibt es im Bezirk an vergleichbaren Wohn-Park-Bauten nur noch die ebenfalls zum Ende der 1920er Jahre gebauten Schramm-Garagen.
MichaelR
(1) 1865 hatte er bereits die Villenkolonie Lichterfelde-West gegründet, die bis heute weitgehend erhalten ist. – Zu Carstenn und der weiteren Geschichte dieses Teiles von Wilmersdorf siehe die Beiträge von Karl-Heinz Metzger (S. 14-42) und Richard Röhrbein (S. 56-85) in Von der Wilhelmsaue zur Carstenn-Figur.
(2) Auch die beiden Carstenn-Figuren sind in den 60er Jahren durch die Herrichtung Westberlins zur „autogerechte Stadt“ stark beschädigt worden (siehe dazu den Beitrag von Thomas Nagel (S. 85-105) in Von der Wilhelmsaue zur Carstenn-Figur und aus Sicht des Straßenbenutzers kaum noch wahrnehmbar, aber man kann sie im Stadtplan oder – hier die Wilmersdorfer Carstenn-Figur – auf Satellitenaufnahmen noch erkennen.
(3) Ein Stadtplan von 1906 macht deutlich, wie stark zehn Jahre später die Bebauungsdichte zugenommen hatte.
(4) Für die Informationen in diesem Kapitel danke ich René Hartmann, M.A. (mit Bezug auf die Bauakten im Bauaktenarchiv Charlottenburg-Wilmersdorf) und dem bezirklichen Denkmalamt.
(5) Von ihm stammen auch das Wohn- und Geschäftshaus Kastanienallee 22, wo er sein Büro hatte, und das Rathaus Schöneberg (beide 1911-14).
(6) Von Großgarage spricht man bei mehr als 25 Stellplätzen.- Jetzt stehen (noch) 128 Garagen/Stellplätze zur Verfügung. Dies erklärt sich so: „Es gab ein paar Kriegsschäden mit entsprechenden Veränderungen. So wurden 1950 z. B. mehrere Boxen zu einem „Waschraum" umgebaut. Ein Teil der Gesamtanlage wird heute auch anders genutzt als in den 1920er-Jahren. Damals war es üblich, mehrere Fahrzeuge in einer gemeinsamen Box einzustellen (Sammelbox), heute sind das Einzelgaragen oder Räume mit anderer Nutzung (Abstellräume etc.).“ (Mitteilung René Hartmann)
Material:
Bezirkslexikon: Nassauische Straße
René Hartmann, Die Hochgarage als neue Bauaufgabe – Bauten und Projekte in Berlin bis 1933, Magisterarbeit (TU Berlin) 2009
Von der Wilhelmsaue zur Carstenn-Figur. 120 Jahre Stadtentwicklung in Wilmersdorf, Hg. Bezirksamt Wilmersdorf, Westberlin (Wilhelm Möller) 1987 [Stadtbücherei: B 152 Wil Wilmersdorf]
Wikipedia: Karte des Herzogtums Nassau 1816–1866
own drawing/Source of Information: Putzger – Historischer Weltatlas, 89. Auflage, 1965; Westermanns Großer Atlas zur Weltgeschichte, 1969; Haacks geographischer Atlas. VEB Hermann Haack Geographisch-Kartographische Anstalt, Gotha/Leipzig, 1. Auflage, 1979; ; dtv-Atlas zur Weltgeschichte Band 1: Von den Anfängen bis zur Französischen Revolution; 23. Aufl. 1989, ISBN 3-423-03002-X
Urheber: ziegelbrenner
MichaelR - Gastautoren, Geschichte - 10. Juni 2014 - 00:02
Tags: nassauische_straße/plätze/stadtgeschichte/straßen
zwei Kommentare
Nr. 2, M.R., 22.08.2014 - 09:46 Nebenan, in Nr. 40, betrieb seit 1911 die Beckmann-Automobil-Vertrieb GmbH eine Garage mit 30 Einstellräumen. Ab 1914 firmiert der Betrieb unter Ing. Jacob Schapiro Automobil-Vertrieb (100 Einstellräume). Jacob Schapiro (1885-1942) unterhielt 1914 bis 1933 noch weitere Betriebe (Wilmersdorfer Str. 85; Berliner Str. 16; Senefelder Str. 11; Berliner Str. 107; Darwin-/Quedlinburgerstraße; Salzufer 4; Donaustr. 96/97: Freiherr-von-Stein-Str. 17). Er war einer der bedeutenden Berliner Großgaragen-Besitzer der Zwischenkriegszeit – und außerdem Taxiunternehmer, Autohändler etc. Die bekannteste Großgarage in seinem Besitz ist sicherlich die Schebera-Großgarage (Darwin-/Quedlinburgerstraße), gebaut von Lohmüller, Korschelt & Renker – und die waren wiederum das bedeutendste Architekturbüro für diese Bauaufgabe in Berlin. Es gibt einen ganz passablen Artikel zu Schapiro: http://de.wikipedia.org/wiki/Jacob_Schap.. (Vielen Dank an René Hartmann für die Mitteilung!) |
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Bilder der noch heute existierenden Kantgaragen:
https://www.google.de/search?q=kantgaragen&espv=2&tbm=isch&tbo=u&source=univ&sa=X&ei=YLqWU5PRHumx0QWsoYG4AQ&ved=0CDQQsAQ&biw=840&bih=467
Zustand der desolaten, gegenwärtigen reste der Holtzendorffgaragen:
http://www.berliner-woche.de/typo3temp/p..
und das was sie mal war:
https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/binary/FBHOL4DW6C5G7FA5MHXQ6ZWG63YI3LUA/full/1.jpg