Verweigerte Erinnerung
Prof. Wolfgang Benz, der Verfasser dieses Artikels, ist Historiker mit Schwerpunkt NS-Forschung. Er lehrte bis 2011 an der Technischen Universität Berlin und leitete von 1990 bis zu seiner Emeritierung dessen Zentrum für Antisemitismusforschung.
Warum tun sich die Zuständigen so schwer, ein Erinnerungszeichen zu setzen, das sinnvoll und womöglich notwendiger wäre als andere? Es geht um den unbekannten 17-Jährigen, den SS-Leute in den letzten Apriltagen 1945 aus dem Keller eines Hauses in der Berliner Straße, zwischen Uhland- und Fechnerstraße, herausholten. Der Junge hatte sich dort versteckt, weil er im sinnlosen Schrecken der letzten Kriegstage sein Leben retten wollte. Er war ein Deserteur. Der oberste Befehlshaber Hitler, der sich im Bunker unter der Reichskanzlei verkrochen hatte und sich ein paar Tage später durch Selbstmord der Verantwortung für viele Millionen Tote entzog, hatte angeordnet, „Verräter“ augenblicklich zu erschießen oder zu erhängen.
Fanatiker vollstreckten, wo sie nur konnten, den verbrecherischen Befehl. Auch an dem 17-Jährigen in Wilmersdorf. Dazu wurde im Haus Berliner Straße 33 eine Wäscheleine beschafft, mit der der junge Mann an Ort und Stelle aufgehängt wurde, mit einem Schild um den Hals „Ich war zu feige, für Deutschland zu kämpfen“. Das war den Mördern noch nicht genug der Barbarei: „Zur Abschreckung“ musste die Leiche tagelang hängen bleiben.
Jahrelang gedachten die Anwohner am Jahrestag des sinnlosen Verbrechens und legten an der Stelle Blumen nieder. Dann schien die Tat vergessen. Seit zwanzig Jahren mühen sich Bürger um ein Zeichen der Erinnerung. Bisher ohne Erfolg. Zwar hat der Deutsche Bundestag 1998 ein Gesetz beschlossen, das die Urteile der Standgerichte aufhob und damit alle, die den Dienst mit der Waffe für das nationalsozialistische Unrechtsregime verweigerten, rehabilitierte. Das Bundessozialgericht hatte schon davor festgestellt, dass die als „Deserteure“ oder „Fahnenflüchtige“ geschmähten Männer Widerstand geleistet hatten, weil sie sich dem NS-Regime verweigerten. Aber dem unbekannten 17-Jährigen in der Berliner Straße, von dem man nur weiß, dass er eine Jacke der Waffen-SS trug, wird das Gedenken verweigert. Die Jacke, die keine Mitgliedschaft in der SS beweist, war für das Bezirksamt Wilmersdorf 1995 Ablehnungsgrund für eine Erinnerungstafel. Später lautete der Einwand, einen anonymen 17-Jährigen zu ehren, würde einen Präzedenzfall schaffen und ihn unangemessen hervorheben.
Das Gegenteil ist richtig. Mit dem überfälligen Zeichen der Erinnerung würden viele geehrt, die vergessen sind, weil sie nicht prominent waren – wie Anne Frank oder die Geschwister Scholl. Eine Gedenktafel würde nicht nur an einen Unbekannten, sondern an viele Opfer des NS-Regimes erinnern, denen wir Respekt schulden für ihre Weigerung, an Unrecht, Massenmord und sinnlosen Opfern mitzuwirken.
Wolfgang Benz, August 2014
Wolfgang Benz - Gastautoren, Geschichte - 17. August 2014 - 18:12
Tags: gedenken/gedenktafel/kriegsende/nationalsozialismus
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