Kurzer Bericht zur Desertion meines Vaters kurz vor Ende des 2. Weltkriegs
Mein Vater Wilhelm Neef war, wie meine Mutter auch, Nazi-Gegner von Anfang an. 1914 geboren, wurde er im 2. Weltkrieg eingezogen und fungierte als Nachrichten-Offizier in Frankreich. Meine Mutter, als Nachrichten-Helferin dienstverpflichtet, lernte ihn 1941 in Paris kennen, wo sie beide stationiert waren.
Nach seiner Versetzung an die Ostfront 1944 (meine Geburt 1943 verhinderte, dass er schon vorher an die Ostfront kam) sollte er Anfang 1945 zur Infanterie versetzt werden, um in der Tschechei bei der kämpfenden Truppe eingesetzt zu werden. Vorher hatte er in Polen – nach seinem eigenen Zeugnis, Unterlagen darüber gibt es nicht – als Musiker für polnische Partisanen Klavier gespielt, meist bei nächtlichen „Ausflügen“.
Um den Einsatz bei der Infanterie zu vermeiden, organisierte er zusammen mit einem Freund, der Arzt war, in Kattowitz ein Krankenzeugnis. Im März 1945 konnte er mit meiner Mutter, die in Tübingen bei meiner Großmutter untergekommen war, telefonieren und ihr mitteilen, dass er sich zusammen mit diesem Freund Zivil-Kleidung besorgen und bei Nacht in Richtung Westen aufbrechen wird. Zwei Tage vor dem 8. Mai kamen die beiden dann in Tübingen an, das inzwischen nach Übergabe der Stadt ohne Kampfhandlungen die Franzosen besetzt hatten. Der Freund, der aus Bremen stammte, reiste sofort in Richtung Norden ab; er kam zwei Wochen später wohlbehalten in Bremen an. Mein Vater wurde in der Tübinger Medizinischen Klinik als angeblich Kranker untergebracht, weil die Franzosen jeden Mann, der keinen Sonderausweis hatte, verhafteten. In der Wohnung meiner Mutter und Großmutter konnte er nicht untergebracht werden, weil sie befürchteten, er werde von einer im selben Haus lebenden Nachbarin denunziert.
Offenbar ist Desertion ein „Delikt“, das alle Armeen gleichermaßen fürchten und sanktionieren (*): Denkt man politisch oder einfach nur human, so hätten die Franzosen jeden Deserteur, der ja unter größter Gefahr für Leib und Leben und in ständiger Furcht vor Denunziation einer Verbrecherbande seine Unterstützung entzogen hatte, mit Blumen empfangen müssen. Sie wussten aber, dass ein solches Beispiel von buchstäblicher Zivilcourage in ihren eigenen Reihen die militärische „Disziplin“ aufweichen würde – und verhielten sich deshalb in dieser Beziehung kaum anders als die Nazis.
Nachdem aus solchen Gründen die Medizinische Klinik eine französische Sonder-Bewachung erhielt, organisierte meine Mutter mit Hilfe eines alten Kommunisten, der inzwischen in der Tübinger Meldebehörde arbeitete, „legale“ Papiere für meinen Vater, der dann Ende Juli 1945 in die Wohnung zurückkehren konnte.Wolfgang Neef, August 2014
Wolfgang Neef, Dipl.-Ingenieur und promovierter Soziologe, arbeitete und lehrte bis 2008 an der TU Berlin und ist weiter als Lehrbeauftragter der TU Berlin und der TU Hamburg-Harburg tätig.
(*) „In den Anfängen des Auslieferungs- und Rechtshilfeverkehrs … war es üblich, Deserteure auszuliefern. Zu diesem Zweck wurden bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts von vielen Staaten sogenannte Deserteur-Kartelle vereinbart. Häufig wurden selbst bei Angehörigen des eigenen Volkes, die aus fremdem Wehrdienst desertiert waren, keine Ausnahmen gemacht. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts gab es jedoch nur noch wenige Deserteur-Kartelle und im 20. Jahrhundert wurden keine mehr vereinbart.“ (Hans J. Schlochauer/Herbert Krüger/Hermann Mosler/Ulrich Scheuner, Wörterbuch des Völkerrechts (1961), S. 349)
W. Neef - Gastautoren, Geschichte - 02. September 2014 - 00:04
Tags: gedenken/gedenktafel/kriegsende/nationalsozialismus
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