Den Zwangsarbeitern ihre Geschichte zurückgeben: 70 + 2 Jahre erinnerungspolitisches Versagen des Bezirks
Seit zwei Jahren hat das Bezirksamt Kenntnis, aber keine Erinnerung geschaffen
Zu Kriegsende „lag in der ganzen [Reichshaupt]Stadt praktisch irgendein Lager gleich um die Ecke“ (1). Das galt auch für unseren Bezirk: Schon Ende 1942 gab es in Wilmersdorf und Charlottenburg zusammen 65 Lager mit 11.000 Zwangsarbeitern, zum Kriegsende etwa 100. Einige große Barackenlager befanden sich im Grunewald, aber die meisten waren in Festsälen, Hotels, Gaststätten, Fabrikschuppen, Schulen usw. untergebracht – also mitten in der Stadt. Die deutsche Bevölkerung begegnete den Zwangsarbeitern im Alltag auf Schritt und Tritt (2).
Viele von ihnen wurden in der Kriegsindustrie eingesetzt, z.B. bei Siemens (Charlottenburg). Aber man benutzte sie ebenfalls auf dem Bau und bei der Reichsbahn, in Arztpraxen, Handwerksbetrieben, Kirchengemeinden und selbst in privaten Haushalten. Und auch in den Bezirksämtern: „Der ausserordentliche Mangel an männlichen Arbeitern hat dazu gezwungen, Kriegsgefangene, Ausländer und sogar Juden einzusetzen“, stellte schon im Frühjahr 1941 der Kriegsverwaltungsbericht des Bezirksamtes Wilmersdorf (3) fest. Arbeitskräftebedarf bestand bei Stadtgärtnerei, Straßenreinigung, Krankenhaus, Wirtschafts- und Ernährungsamt, Friedhof, Gewerbeaufsicht, Gaswerk, Gesundheits- und Finanzamt.
Aufgrund eines Hinweises des Dokumentationszentrums NS-Zwangsarbeit der Stiftung Topographie des Terrors konnte Wilhelmsaue 40 (offiziell: 39-41) als Standort des Zwangsarbeiterlagers des Bezirksamts Wilmersdorf identifiziert werden. Beleg dafür ist der Bericht des Gesundheitsamtes Berlin-Wilmersdorf vom 30.11.1942 (4), in dem es heißt (hier ein Auszug):
Vor Errichtung des Lagers befanden sich auf dem Grundstück schon ein Kinderheim (bis 1945) sowie ein Büro und Depot der städtischen Straßenreinigung (bis in die 1950er Jahre). Welches Gebäude von wem benutzt wurde (außer dem größten für das Kinderheim), ließ sich bisher nicht feststellen.
Dieses Lager wird der „Bez.Verw. Wilmsdf.“ zugeordnet, also dem Bezirksamt. Daß dieses der Betreiber war, wird auch aus einem zweiten Dokument (5) deutlich, in dem der Bezirksbürgermeister über die „Insassen des Ausländerlagers“ – wie Zwangsarbeiterlager in der Sprache des Nationalsozialismus offiziell hießen – bestimmte: „Ich behalte mir den Arbeitseinsatz der Ausländer selbst vor.“ Somit regelte das BA Wilmersdorf den Einsatz seiner Zwangsarbeiter selbständig. Daß es sich um Zwangsarbeiter handelte, bestätigt zusätzlich eine bei der Wehrmachtauskunftstelle (WASt) befindliche Meldeliste für Wilhelmsaue 40 (6), in der 38 Personen aufgeführt sind, neben mehreren Jugoslawen und einem Tschechoslowaken hauptsächlich Polen, die unbestritten ausschließlich als Zwangsarbeiter im Reich eingesetzt waren.
Historische Verantwortung des Bezirksamtes – und sein Umgang damit
Seit Januar 2015 sind alle Mitglieder des Bezirksamtskollegiums über die Existenz dieses Lagers informiert. Wie sind sie, allen voran der Bezirksbürgermeister und die Kulturstadträtin, damit umgegangen? Haben sie akzeptiert, daß es Aufgabe des Bezirksamtes selbst ist, die historische Verantwortung für das Unrecht seiner Vorgänger zu übernehmen und an Ort und Stelle an die mißbrauchten Zwangsarbeiter zu erinnern?
Die erste Reaktion des BA war, die Angelegenheit umgehend an die Gedenktafelkommission abzugeben. Diese hatte bis Ende 2016 das Thema zweimal auf ihrer Tagesordnung (24.9.2015, 16.2.2016). Man hat nie von irgendwelchen Ergebnissen gehört.
Im Mai 2016 zog das Bezirksamt die Angelegenheit an sich, indem Stadträtin König es übernahm, Anfragen an die Berliner Geschichtswerkstatt (BGW) und an das Dokumentationszentrum zu stellen. Der Inhalt der Anfragen ist nicht bekannt; jedenfalls ging es darum, ob die beiden renommierten Einrichtungen zur Zwangsarbeit im Bezirk forschen könnten.
Die Berliner Geschichtswerkstatt antwortete Ende August, das Dokumentationszentrum Ende Oktober; beide Antworten wurden bisher nicht der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Das ist mit Bezug auf die Zwangsarbeiter der Wilhelmsaue brisant, da die Berliner Geschichtswerkstatt der Stadträtin/dem Bezirksamt mitgeteilt hatte, „dass es keinen Zweifel daran gibt, dass das Bezirksamt Zwangsarbeiter in eigener Regie beschäftigt hat und dass schnellstmöglich an der Wilhelmsaue eine Gedenktafel angebracht werden sollte“ (Email der BGW vom 11.8.2016).
Diese Bestätigung der Forschungsergebnisse und gleichzeitig dringende Empfehlung, tätig zu werden, liegt nun schon seit vier Monaten beim Bezirksamt, ohne veröffentlicht, geschweige denn umgesetzt worden zu sein.
Es war richtig, daß das Bezirksamt dieses Anliegen im Mai an sich zog. Aber diese klare Aussage einfach in der Schublade zu belassen, deutet darauf hin, daß die Erinnerung an die Zwangsarbeiter des Bezirksamtes noch lange auf sich warten lassen könnte (die Erforschung der Zwangsarbeit im gesamten Bezirk sowieso, da die beiden Institutionen dafür keine Kapazitäten übrighaben bzw. das Bezirksamt kein Geld) – es sei denn, daß das nun neue Bezirksamt dieses Anliegen endlich für wichtig ansieht und „schnellstmöglich an der Wilhelmsaue eine Gedenktafel“ anbringt.
Übrigens: Auch das Bezirksamt Charlottenburg hatte ein Lager, und zwar in der Oranienstraße 13/15 (jetzt Nithackstraße 8-10). Hier bedarf es noch weiterer Untersuchungen, die bisher nicht initiiert wurden.
MichaelR
Die bisherigen Artikel zum Thema Zwangsarbeit können hier nachgelesen werden.
(1) Rainer Kubatzki, Irgendein Lager gleich um die Ecke, S. 73
(2) siehe hier: „Zwangsarbeiter – mit den Augen eines Kindes gesehen“
(3) „Kriegsverwaltungsbericht Wilmersdorf (vom Kriegsbeginn bis 31. März 1941)“, Bl. 12: Landesarchiv Berlin A Rep. 039-08 Nr. 14
(4) in: „Ärztliche Versorgung der Ausländerarbeitslager“ [Jahreswechsel 1942/43]: Landesarchiv Berlin C Rep. 375-01-08 Nr. 7818/A 06
(5) Schreiben des Bezirksbürgermeisters des Verwaltungsbezirks Wilmersdorf der Reichshauptstadt Berlin vom 30. April 1944 an die Herren Dienststellenleiter (Archiv Museum Charlottenburg-Wilmersdorf, 3962-1)
(6) Liste des Polizeireviers 151 vom 11.1.1946 aus der Akte „Ausländer, die in Berlin polizeilich gemeldet waren“
MichaelR - Gastautoren, Geschichte - 02. Januar 2017 - 00:02
Tags: gedenken/nationalsozialismus/stadtgeschichte/wilhelmsaue/zwangsarbeit
zwei Kommentare
Nr. 2, M.R., 20.02.2017 - 21:58 Für all die politischen Entscheidungsträger im Bezirk (Bürgermeister, Stadträte, Bezirksverordnete), die durch ihre Hinhaltetaktik die Erinnerung an die Zwangsarbeiter (besonders die des Bezirksamtes) seit langem verhindern: ein Artikel über das Interview-Archiv „Zwangsarbeit 1939–1945“: http://www.tagesspiegel.de/themen/freie-.. |
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Vor über 15 Jahren haben die Berliner Museen einen Sammelband über die NS-Zwangsarbeit in Berlin herausgegeben. Angesichts der Erkenntnisse von beispielsweise Michael Röder wäre es wünschenswert, wenn das Land Berlin erneut Gelder bereit stellt, um die NS-Zwangsarbeit in den Bezirken weiter aufzuarbeiten. Dies kann zentral von der Dokumentationsstelle für NS-Zwangsarbeit in Schöneweide koordiniert werden oder von den Berliner Regionalmuseen in Zusammenarbeit mit der NS-Dokumentationsstelle, wie die ProtagonistInnen das für am sinnvollsten erachten. Dabei könnte eine Reihe für jeden Bezirk in Buchform und als Online-Ressource entstehen, die fortgesetzt werden könnten. Mittlerweile sind, wie an dieser Stelle Michael Röder belegt, neue Erkenntnisse gewonnen. Neue Fragen sind entstanden, denen nachgegangen werden sollte. Dabei wäre die Täterspektive besonders interessant, da mit der Täterperspektive weitere Fragestellungen und Forschungsfelder verknüpft werden können, die die Erkenntnis über Arbeitsweise und Funktionen des NS-Herrschaftssystems auch “im Reich” weiter voran bringen würden.