Neuhofers schwieriges Erbe
Vor fast fünfundzwanzig Jahren, im März 1982, erlangte die Region südlich des Charlottenburger Schlosses unter dem Namen "Kiez am Klausenerplatz" ihre Unabhängigkeit. Es war eine Zeit der großen Hoffnungen und Verheißungen.
Der erste Präsident des Landes, Arthur Nkruma Neuhofer, Held des antikolonialen Nationalismus und überzeugter Vertreter der Kiezideologie, verkündete, nun habe das "Reich der Freiheit" begonnen. Er wurde jedoch Opfer seines schnellen Erfolgs. Ein Gefangener des zeittypischen Machbarkeitswahns, entwarf er den Kiez als Sozialstaat mit umfassender Interventionskompetenz, trat aber das Erbe eines schwachen und autoritären Staates an. Auch mußte er erkennen, daß die überkommene koloniale Wirtschaftsstruktur ihm trotz des großen Ressourcenreichtums kaum Handlungsspielräume ließ. Angesichts der Kluft zwischen Können und Wollen und aus Schwäche suchte er sein Heil in autoritären Lösungen. 1998 wurde er aus dem Amt geputscht, ging nach Schweden ins Exil und starb vier Jahre später in einem bayrischen Krankenhaus. Inzwischen wird er im Kiez wieder als Nationalheld verehrt.
Was nach Neuhofer kam ist bekannt: eine Zeit der wirtschaftlichen Prosperität, der ein ebenso schnell einsetzender Niedergang folgte.
Zur Zeit befindet sich der Kiez allerdings in einer Erholungsphase, wirtschaftlich und kulturell. In der Danckelmannstraße wird demnächst ein Tabak- und Zeitschriftenladen eröffnen, der auch Zeitungen von außerhalb (Potsdamer Neue Presse) führen will. Andere neue Medien haben im Zeitalter der omnipräsenten Computervernetzung schon Einzug gehalten. Ein kürzlich eingerichteter Kiezer Weblog bietet Möglichkeiten der virtuellen Kommunikation, birgt allerdings, wie so oft die Gefahr, daß scheinseriöse Informationen und pseudowissenschaftliche Beiträge von verantwortungslosen Subjekten ins Netz gestellt werden. Ob die von den Webbetreibern so hochgepriesene Meinungsfreiheit und Zensurabsenz dabei nicht schamlos ausgenutzt wird, bleibt zumindest diskussionswürdig.
Im übrigen zählt der Kiez schon seit geraumer Zeit zu den beliebtesten Gegenständen der internationalen Forschung, was auch mit den vergleichsweise guten Arbeitsbedingungen und der stabilen politischen Lage des Landes zu tun hat.
Aus der Flut der Veröffentlichungen in jüngster Zeit ragt besonders Mario Gerstenträgers vierbändige Untersuchung
"Prolomina postkolonialer Identitätsfindung. Der Kiez am Klausenerplatz" (University Press Talin, 2006, 3996 S., € 230,-)
heraus. Stringent und ganz in der Tradition Otto F. Nicolaisens, seines großen Lehrers stehend, schildert er, vor welch großen Problemen der Kiez zu Beginn der postkolonialen Ära stand. In Ermangelung einer gemeinsamen Sprache oder Religion beriefen sich die jungen Nationen damals auf die Geschichte und die Historiker, die eine nationale Identität definieren und ein Nationalbewußtsein schaffen sollten. Es galt zunächst, die neuen Führer der unabhängigen Staaten mit großen, glorreichen Vorfahren in Verbindung zu bringen, um ihnen in den Augen der Bevölkerung Legitimität zu verschaffen. Nicht selten auch wurde eine ideologisch motivierte Verknüpfung der neuen politischen Einheiten mit den großen mittelalterlichen Reichen angestrebt.
Die Stadtteilbibliothek West in der Nehringstr. 10 wird sich das umfangreiche Werk anschaffen. In einigen Wochen wird es damit auch denjenigen Kiezbewohnern zur Verfügung stehen, die die nicht ganz unerheblichen Kosten der Publikation abschrecken mögen.
Prof. Wilfried Lindes
(Universität Utrecht. Präsident des BfV)
Raymond Sinister - Satire - 31. August 2006 - 09:10
Kein Kommentar
Kein Trackback
Trackback link: