Ein Unzeitgemäßer
Im Jahre 1871 wird Berlin zur Hauptstadt des neu gegründeten Deutschen Reiches. In der Folge beginnt ein Prozess beispielloser großstädtischer Verdichtung. Lebten im Jahr der Reichsgründung erst 826 000 Menschen in Berlin, sind es 1914 bereits 3,6 Millionen. In dieser Gründerzeit des exponentiellen Wachstums prägen Tempo und Härte die nervöse Stadt, die den Stillstand nicht zu kennen scheint und kulturelle Einflüsse aller Art absorbiert. Die Metropole als Integrationsmaschine, die nicht mehr zwischen Eigenem und Fremdem unterscheidet, wird selbst zum Thema der Literatur. Einer der ersten Autoren dieser Entwicklung ist der Schweizer Robert Walser, der von 1905 bis 1913 in Berlin, genauer: in Charlottenburg unter stetig wechselnden Adressen lebt, meist bei seinem Bruder Karl, einem bekannten Maler und Grafiker. In der Kaiser-Friedrich-Str. 70 erinnert eine Gedenktafel an diesen Wegbereiter der literarischen Moderne.
Robert Walser wird 1878 in Biel im Kanton Bern geboren. Er führt ein nomadisches Leben in Zürich, Basel und Bern, versucht sich zunächst erfolglos als Schauspieler, arbeitet sodann als Sekretär, Buchhalter und Diener. Parallel dazu veröffentlicht er Gedichte, Essays und Kurzgeschichten in Zeitungen und Anthologien. In seiner Berliner Zeit entstehen seine berühmten Romane „Geschwister Tanner“ (1907), „Der Gehülfe“ (1908) und „Jakob von Gunten“ (1909). Walser hält regen Kontakt zur Berliner Kultur-, speziell Literatur- und Theaterszene. Nach dem enttäuschten Rückzug aus Berlin arbeitet er als Bibliothekar in Bern, dabei unter ständiger Geldnot leidend und nur noch sporadisch schreibend. Hermann Hesse setzt sich sehr für ihn ein, auch Robert Musil, Franz Kafka und Walter Benjamin schätzen seine Texte. Ab 1929 lebt er mit einer Schizophrenie in den Heilanstalten Waldau und Herisau. Er stirbt 1956 während eines ausgedehnten Spaziergangs.
Walser wird zu einem aufmerksamen Chronisten des Großstadtlebens, das durch Beschleunigung, Ironie und Verstellung gekennzeichnet ist: „Was ist man eigentlich in dieser Flut, in diesem bunten, nicht endenwollenden Strom von Menschen? Manchmal sind alle diese beweglichen Gesichter rötlich angezärtelt und gemalt von untergehenden Abendsonnengluten. Und wenn es grau ist und regnet? Dann gehen alle diese Figuren, und ich selber mit, wie Traumfiguren rasch unter dem trüben Flor dahin, etwas suchend, und wie es scheint, fast nie etwas Schönes und Rechtes findend.“ Walsers alter ego ist ein Unzeitgemäßer, der keinem beruflichen Erfolg nacheilt, sondern eher wie ein Kind im Sandkasten verharrt und sich selbst Geschichten erzählt. Er ist ein Tagträumer, Gedankenflaneur und Taugenichts, der heiter feststellt: „Ich werde eine reizende, kugelrunde Null im späteren Leben sein.“
Walsers Roman „Jakob von Gunten“, ein in Tagebuchform verfasster Bericht aus dem Institut Benjamenta, dessen Zöglinge zu Dienern ausgebildet werden, kann gelesen werden als Satire auf die sich über Statussymbole ausdifferenzierende Gesellschaft, die von ihren Mitgliedern verlangt, ihre Individualität zugunsten einer funktionieren und unempfindlichen professionellen Rolle aufzugeben. Es ist der Diener, der seine subalterne Position bejahrt und damit des Herren Macht karikiert. Diese wunderliche Dialektik von Herr und Knecht ist konsequent unpolitisch und bietet Trost nur im stillen Lachen. Der Schweizer Autor Matthias Zschokke, selbst seit drei Jahrzehnten in Berlin lebend, sagt über seinen Landsmann: „Er schreibt ausschließlich für sich selbst, fürs Schreiben, fürs eigene Leben, um den Moment auszuhalten, und nicht in den Sekunden unterzugehen.“ Eine Literatur, die ihren LeserInnen ein solches Geschenk zu machen versteht, ist nur kostbar zu nennen.
Andrea Bronstering - Gastautoren, Geschichte, Kunst und Kultur - 18. April 2008 - 01:50
Tags: charlottenburg/karl_walser/literatur/robert_walser
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Schöner Artikel.
Hier für weitere Informationen der Link zum Wikipedia-Artikel:
http://de.wikipedia.org/wiki/Robert_Wals..