Wird die EU durch den Vertrag von Lissabon demokratischer?
Eine Broschüre der EU zum Vertrag von Lissabon versichert im Vorwort, der Vertrag „bringt mehr Demokratie für Europa – durch ... Kontrollrechte für die Bürger und Mitgliedstaaten“ mittels eines „europäischen Volksbegehrens“ und einer „aktiven Mitwirkung der nationalen Parlamente“. Wie soll das gehen?
a) Laut Artikel 11 des EU-Vertrags können „mindestens 1 Million“
EU-Bürger „aus einer erheblichen Anzahl von Mitgliedsstaaten“ die
Europäische Kommission „auffordern“, den zuständigen EU-Gremien einen
Gesetzesvorschlag zu „unterbreiten“.
Das ist alles an dieser Stelle. Wie das praktisch aussehen soll, muß
erst noch von den gesetzgebenden EU-Gremien festgelegt werden (Artikel
24 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU). Fest steht aber schon
jetzt, daß man natürlich jederzeit jemanden „auffordern“ kann, etwas zu
tun, ohne daß dieser andere aktiv werden müßte. Außerdem sind natürlich
die gesetzgebenden EU-Gremien keineswegs verpflichtet, das gewünschte
Gesetz zu verabschieden. Und zuallererst muß sich jemand finden, der
organisatorisch in der Lage ist, über vielleicht 18 bis 20 EU-Staaten
hinweg die 1 Million Unterschriften zu sammeln.
b) Weiterhin soll es nun den nationalen Parlamenten ermöglicht werden,
„aktiv zur guten Arbeitsweise der Union beizutragen“ (Artikel 12 des
EU-Vertrages). Wenn man aber Genaueres dazu erfahren will, muß man
jetzt in das „Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente in der
EU“ schauen. (Es gibt übrigens neben den beiden bereits erwähnten
Verträgen und diesem Protokoll noch 36 weitere Protokolle, außerdem 65
Erklärungen.) Hier wird man jedoch gleich erneut weiterverwiesen auf
das „Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und
der Verhältnismäßigkeit“. Um es kurz zu machen: Die zuständigen
EU-Gremien sind verpflichtet, etwaige Stellungnahmen nationaler
Parlamente zu „berücksichtigen“, und wenn die Anzahl der Stellungnahmen
eine bestimmte Grenze überschreiten, müssen diese EU-Gremien ihren
Gesetzesentwurf „überprüfen“ (woraus zu schließen ist, daß
„berücksichtigen“ nicht eben viel bedeutet). Nach der Überprüfung
können sie dann beschließen, an ihrem Gesetzesentwurf „festzuhalten,
ihn zu ändern oder ihn zurückzuziehen“. Nach „Gelber Karte“ für die EU,
wie es die Broschüre behauptet, sieht das nicht gerade aus.
Beide Musterbeispiele für „mehr Demokratie für Europa“, auf die gerne
auch in den Medien immer wieder hingewiesen wird, erweisen sich also
bei näherer Betrachtung als aufwendige Beschäftigungsmaßnahmen für
Bürger und nationale Parlamente ohne jegliche Erfolgsgarantie.
P.S.: Die Broschüre „Der Vertrag von Lissabon. Die EU-Reform 2008 im
Überblick“ ist über die Vertretung der EU (Tel. +49 (0)2280-1000) erhältlich,
der Vertrag von Lissabon über die Bundeszentrale für politische Bildung
(Tel. +49 (0)30 254504-0).
MichaelR
M.R. - Gastautoren, Gesellschaft, Politik - 16. Juli 2008 - 00:12
Tags: demokratie/eu/eu_reform/vertrag_von_lissabon
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