Herr A.
Herr A. sagt, wenn man ein Portrait zeichnet, soll man sich auf ein besonderes Merkmal konzentrieren. Und man soll einige wichtige Punkte auf dem Blatt festlegen, durch die hinterher die Linie gezogen wird, so daß keine Ausbesserungen nötig sind. Das setzt aber voraus, daß man genau hinschaut, also zu sehen gelernt hat, und daß man einen Blick für die Menschen hat und Sinn für Proportionen.
Genaues Hinsehen, Sinn für Proportionen, Blick für die Menschen: das trifft nicht nur zum Beispiel auf das Selbstportrait zu, das hinter der Eingangstür seines Geschäftsraumes hängt; das gilt auch für seinen Beruf: Herr A. ist Schneider, und das bereits über ein halbes Jahrhundert, davon fast vierzig Jahre in dieser Werkstatt.
Schon in der Grundschule in der Türkei gefiel ihm Nähen, worin er sogar besser war als die Mädchen, wie Herr A. schmunzelnd erzählt. Und gern gezeichnet hatte er damals auch schon.
Als er Ende zwanzig war, kam er vorübergehend nach Westberlin, um die moderne Konfektion kennenzulernen, und machte in Abendkursen die Meisterprüfung. 1969 ließ er sich dann endgültig hier nieder und eröffnete seine jetzige Werkstatt. In den ersten Jahren nähte er außerdem für eine hiesige Konfektionsfirma als Zwischenmeister Modelle - eine anspruchsvolle Tätigkeit, die darin besteht, aus einer Modellzeichnung das Schnittmuster zu entwickeln und passend für das Mannequin das Kleidungsstück zu nähen, das dann die Vorlage für die spätere fabrikmäßige Produktion ist. Genaues Hinsehen, Sinn für Proportionen, Blick für die Menschen ...
Heute ist es schwieriger, diese Fähigkeiten beruflich zu nutzen, da die individuelle Anfertigung von Kostümen, Mänteln und so weiter immer mehr durch Konfektionsware abgelöst worden ist. So lebt Herr A. jetzt vorwiegend von Maßänderungen. Daneben zeichnet er weiterhin, insbesondere Köpfe, und ist Mitglied in einem türkischen Chor. Früher hat er auch Fußball gespielt und war ein "flotter Kerl", wie er mit einem Foto belegt.
Eines Tages möchte Herr A. hier beerdigt werden, nicht in der Türkei, aus der er vor fast fünfzig Jahren kam. Heimat? Immerhin hat er den weitaus größeren Teil seines Lebens hier verbracht. Aber noch lebt Herr A., man kann sogar sagen, daß er sehr lebendig ist mit seinen 77 Jahren: Seine Augen glänzen, und er stößt gelegentliche "Ohs" aus, während er erzählt. Aber er hat auch einen nachdenklichen Blick auf das Leben: Man muß auf Enttäuschungen vorbereitet sein, denn sonst können sie einen bößartig machen; am besten, man nimmt das Leben nicht zu ernst.
MichaelR
Michael R. - Gastautoren, Menschen im Kiez - 18. Dezember 2008 - 00:04
Tags: schneider/schneiderei/schneiderwerkstatt
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