Lesetipp VIII: Biedersinn und Größenwahn
Im laufenden Jahr 2009 reihen sich Schlag auf Schlag die runden Gedenktage: Vor 70 Jahren begann der II. Weltkrieg, vor 60 Jahren wurden das Grundgesetz erlassen und die Bundesrepublik Deutschland und die DDR gegründet, vor 40 Jahren legalisierte der Bundestag Homosexualität unter Erwachsenen, vor 20 Jahren fiel die Berliner Mauer. Diese Jubiläen gemahnen an Daten deutscher Geschichte, die in Erinnerung zu halten die bundesrepublikanische Identität stützt. Inmitten dieser Gedenk- und Feiertage gerät leicht in Vergessenheit, dass im Zuge der deutschen Einheit auch eine politische Kuriosität der Nachkriegszeit sowie des Kalten Krieges ihr Ende fand: Das alte West-Berlin ging am 3. Oktober 1990 im wieder vereinten Deutschland auf und verlor seinen Sonderstatus, der über 40 Jahre lang in Stadt, Land und Kontinent präsent war. In seinem neuen Buch „Die Insel“ schreibt Wilfried Rott eine Geschichte West-Berlins von 1948 bis 1990. Er macht es sich zum Ziel, „einen Mikrokosmos lebendig werden zu lassen, in dem sich banale Stadt- mit dramatischer Weltgeschichte mischte und das Erhabene neben dem Peinlichen bestand.“ Damit sind konkret gemeint: Der pragmatische Wiederaufbau der zerbombten Stadt, das zähe Ringen um eine neue Ostpolitik nach dem Motto „Wandel durch Annäherung“, ein grotesk aufgeblähter öffentlicher Dienst nebst einer alternativen Projektelandschaft im Windschatten des Kapitalismus, unterfüttert durch die Standhaftigkeit der mehrheitlich plebejischen Insulaner, deren Alltag der Senat als Zirkus inszeniert.
Bereits 1944 in London beschlossen die USA, Großbritannien, Frankreich und die Sowjetunion, nach Kriegsende Deutschland und Berlin in vier Sektoren aufzuteilen. Die Bestrebungen der UdSSR, in der östlichen Zone Deutschlands den Sozialismus aufzubauen, führten zu einer neuen Gegnerschaft unter den einstigen Alliierten gegen Nazideutschland; West-Berlin wurde auf eine besondere Weise zum Spielball globaler politischer Entwicklungen. Die verschiedenen Namen, die diesem „dritten Deutschland“ zwischen der Bundesrepublik und der DDR gegeben wurden, zeugen von seiner Eigenart: Insel, Frontstadt, Halbstadt, Hauptstadt im Wartestand, Stachel im Fleisch des Ostens, Schaufenster des Westens und schließlich, nach einem Bonmot Gerhard Seyfrieds, Restberlin. Über 30 Jahre arbeitete Wilfried Rott, 1943 geboren, als Moderator beim SFB/rbb und war darüber hinaus jahrelang Kolumnist der FAZ und der Welt. Die Mentalität des alten West-Berlin beschreibt er als „Stimmungskompositum von heroischem Selbstbewußtsein aus Blockadetagen, Erinnerungen an die Größe der einstigen Reichshauptstadt und einer gewissen Biederkeit, die darauf gerichtet war, sich unter den schwierigen Bedingungen einzurichten.“ Die Gewissheit, die Größten zu sein, wurde der Bevölkerung der alimentierten Halbstadt sowohl von der hegemonialen Springerpresse als auch vom hysterisch antikommunistischen RIAS eingeimpft. Ungeachtet des Zuzugs zahlreicher Schriftsteller in den 1960er Jahren, blieb das geistige Klima der Stadt bedrückend eng und provinziell.
Mit großer Detailkenntnis und in staatstragendem Tonfall lässt Rott die Geschichte West-Berlins im Jahr 1948 anheben. Zu den Gründungsmythen zählen die Luftbrücke der westlichen Alliierten während der sowjetische Blockade, die Gründung der Freien Universität in Dahlem und die Wahlen zu gleich zwei Parlamenten und Regierungen in beiden Stadthälften. Akribisch referiert Rott die Entwicklung: der Aufstand des 17. Juni 1953 in Ost-Berlin und der Bau der Mauer 1961; die Besuche Kennedys 1963 und des Schah von Persien 1967; Studentenbewegung und Terrorismus; Passierscheinabkommen, Transitstrecke und Intershop; Tummelplatz für Spione aller Herren Dienste; diverse Skandale im Filz aus SPD, CDU und Bauwirtschaft; DDR-Flüchtlinge und türkische „Gastarbeiter“ in Kreuzberg; Hausbesetzungen und Subkultur; 750-Jahr-Feier 1987 und Fall der Mauer 1989. Es entsteht das Panorama einer Stadt, die das Trauma des Bedeutungsverlusts mit der permanenten Suche nach einer „Aufgabe“ (Klaus Schütz) kompensiert. Das Leben ist geprägt von Biedersinn und Größenwahn, bei wirtschaftlicher Abhängigkeit von Bonn und „Westdeutschland“, politischem Gebundensein an Weisungen der alliierten Stadtkommandanten und militärischem Ausgeliefertsein an das Wohlwollen der USA. Um die Menschen in der Stadt zu halten (fast alle Konzerne waren nach Kriegsende ins Rhein-Main-Gebiet, nach Hamburg oder Bayern abgewandert), flossen beharrlich Subventionen an die Spree in Form der Berlin-Zulage, verschleierter ABM oder des Telefonierens ohne Minutentakt. Im West-Berlin galt zwar das Grundgesetz, nicht aber die Wehrpflicht, mussten die Menschen zwar die Gesetze der Bundesrepublik befolgen, durften aber nicht den Gesetzgeber mitwählen.
Rott erzählt die Geschichte West-Berlins aus der Perspektive der Politik. Dabei geraten ihm die Portraits einzelner Regierender Bürgermeister von Willy Brandt über Heinrich Albertz bis zu Richard von Weizsäcker zu langatmig, bei der Schilderung der üppig geförderten Hochkultur (Schillertheater, Philharmonie, Deutsche Oper, Neue Nationalgalerie, Berlinale) gibt er belanglose Dönekes zum Besten. Leider unterlaufen ihm auch historische Fehler: So starb Rudi Dutschke nicht 1968, sondern 1979, wurde Karl-Heinz Kurras nicht 30, sondern 42 Jahre nach seinem tödlichen Schuss auf Benno Ohnesorg als IM der Stasi enttarnt. Mehrfach verfällt der Autor der berüchtigten West-Berliner Nabelschau, die kaum wahrnimmt, was im Umfeld passiert. So fällt in den bewegten Schilderungen des Herbstes 1989 kein Mal der Name Gorbatschow, obwohl es die Perestroika-Politik des Generalsekretärs des ZK der KPdSU war, die die friedlichen Revolutionen in den osteuropäischen Staaten erst ermöglichte. Unter dem Strich liefert Rott einen gut lesbaren Abriss der Geschichte West-Berlins für die junge Generation; immerhin haben 30% der heutigen BerlinerInnen diese Epoche nicht bewusst miterlebt. Wer diese Zeit aus eigener Anschauung noch im Gedächtnis hat, mag sich fragen, was denn von dieser Paradoxie weiterlebt; bestimmt ein infantiles Mir kann keener, vermutlich auch ein kultureller Inzest, mündend in eine heroisch verbrämte Realitätsverweigerung – bei jedoch nachlassender Kraft der sie grundierenden Mythen. Untot und begrenzt charmant, diese nörgelnden Piefkes und ewigen Antifas.
Wilfried Rott: Die Insel. Eine Geschichte West-Berlins 1948-1990, München 2009 (Beck), 24,90 €
Andrea Bronstering - Gastautoren, Geschichte - 09. September 2009 - 00:02
Tags: berlin/berlingeschichte/west_berlin/wilfried_rott
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