Kurfürstendamm: das Tor zum Judenghetto
"Und ich weiß auch, daß in der Nachbarschaft des Kurfürstendammes...von Zeit zu Zeit merkwürdige Schreie zu hören sind...Heute vermute ich, daß nicht die Menschen in diesen Straßen schreien, sondern die Straßen selber."
Siegfried Kracauer
2011 ist das Gedenkjahr zum 125. Jubiläum des Boulevards, der 18. Oktober ist Gedenktag zum 70. Jahrestag der Beginn der Judendeportationen vom Bahnhof Grunewald aus.
Was verbindet beide Daten in gemeinsamer Erinnerung ?
Nichts, soweit der Bürger etwas in den Jubiläumsbroschüren, in einschlägigen Geschichtswerken zum Kudamm suchen sollte. Doch dem ist nicht so.
"Am 16. Oktober 1941 begann am Vormittag die sogenannte >>Ausschleusung aus dem Sammellager<< und die Verbringung der Transportteilnehmer nach dem Bahnhof Grunewald bei strömendem Regen. Die SS hatte ihre offenen Lastwagen vorfahren lassen, teils waren es Steh-Trucks, diese Lastwagen durften aber nur Schwache und Kinder benutzen, alle anderen mußten in einem langen Zuge durch die Stadt laufen". In der folgenden Zeit kam es zu einer Reihe solcher Elendsprozessionen mitten durch das Zentrum des Berliner Westens über den Kurfürstendamm zum Bahnhof Grunewald. Zwar wurden die meisten dieser Transporte nachts durchgeführt, dennoch ist es erstaunlich, daß kaum ein Anwohner etwas von den Transporten gemerkt haben will.
(Quelle: Hildegard Henschel zit. nach: "Christiane Klingspor: Orte der Erinnerung/Stätten der Deportation in: Die Grunewald Rampe, Berlin: 1993, s. 136 (Kommentar von Fr.Klingspor)
10 bis 20 Transporte gingen in der Folgezeit von Grunewald aus, 10- bis
20 000 jüdische Bürger waren betroffen. Genaue Zahlen gibt es nicht, Zeitzeugen
und Archivdokumente sind rar, unpräzise und teilweise falsch (besonders
sind die Aussagen von Frau Deutschkron mit Vorsicht aufzunehmen).
Unumstritten ist: es mußte der obere Kudamm benutzt werden, um vom
Sammellager Levetzostr.(ehemalige Synagoge in Moabit) über die
Halenseebrücke und die Ringbahn über die Erdener-, zur Trabener Straße
und schließlich zum Bahnhof Grunewald zu gelangen.
Bei der 8-km-Strecke, die in der Literatur genannt wird, wäre der
gesamte Kudamm - beginnend an der Gedächtniskirche - betroffen, bei dem
kürzeren Weg, 6.8 km, kämen auch Nebenstraßen, wie die Kant- oder
Gervinusstr., in Frage. Der genaue Weg ist unbekannt.
Ist das wichtig ? Für den Historiker schon, für die deutsche Geschichte
weniger, für die Bedeutung des Kudammjubiläums auf jeden Fall.
Es stellt sich die Frage nach 70 Jahren: warum bleibt dieser Abschnitt
der Kudammgeschichte in den Erinnerungen der Menschen, in der Literatur
unerwähnt? Geradezu verdrängt! Warum haben die Orts- und
Landeshistoriker und Politiker unmittelbar nach dem Krieg - als es noch
Betroffene und Augenzeugen gab - nie nach Dokumenten und Berichten
geforscht ? Wo sind die Akten der begleitenden Ordnungspolizei geblieben
?
Hat wirklich keiner was gesehen ? Ein damals 10 Jahre alter Kudamm- oder
Stadtbewohner lebt sicherlich noch heute, gibt es wirklich keine
Augenzeugen mehr ?
Hier geht die Aufforderung an die "Blogger" raus: sucht und nennt noch
lebende Zeugen oder übermittelt schriftliche Unterlagen von bereits
Verstorbenen.
Die jüdischen Menschen rund um den Kurfürstendamm waren zu Beginn des
Oktober in der Regel bereits ausgewandert, da sie in der Regel
wohlhabender und weltgewandter waren (15% der Bürger in Wilmersdorf
waren jüdischer Herkunft, Berlinweit war dies der höchste Anteil).
Getroffen hat es häufig - wie so oft - die sozial schwächeren Schichten,
die vom Auswanderungsverbot und vom Verschiebungsgebot - nach den
Entmietungsprozessen durch den NS-"Generalbaumeister " Speer - plötzlich
betroffen waren.
Seit dem 12. Oktober 2011 taucht der Kurfürstendamm im "Festival of
Lights" in ein Lichtermeer, vergessen wir nicht, daß am 18. Oktober vor
siebzig Jahren am selben Ort die Lichter ausgingen.
(Kiezspaziergang am Samstag, 12.11.2011, ab 14:00 Uhr vom Bahnhof Grunewald zum Henriettenplatz)
Joachim Neu - Gastautoren, Geschichte - 20. Oktober 2011 - 00:24
Tags: berlin/charlottenburg/gedenken/kurfürstendamm/nationalsozialismus
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