"Erste Masssendeportationen" in Charlottenburg
....vor den deutschen kamen die polnischen Juden
"Ich lebte in einem winzigen möblierten Zimmer in der Spichernstraße (Nr.16) in Charlottenburg, in der einst Brecht mit Helene Weigel gewohnt hatte. Die Situation der Juden hatte sich im Laufe der Jahre gründlich verändert, also verschlechtert(...) Am 28.Oktober 1938 wurde ich frühmorgens, noch vor 7 Uhr, von einem Schutzmann, der ebenso aussah wie jene Polizisten, die auf den Straßen den Verkehr regelten, energisch geweckt. Nachdem er meinen Paß genauestens geprüft hatte, händigte er mir ein Dokument aus. Ich würde, las ich, aus dem Dritten Reich ausgewiesen.(...)
Wir mußten eine noder zwei Stunden warten, dann wurden wir in "grünen Minnas" zu einem Sammelplatz - es war eine höhere Polizeidienststelle am Sophie-Charlotte-Platz - abtransportiert. Unter freiem Himmel standen dort schon Hunderte von Juden, die, wie sich rasch herausstellte, ebenfalls polnische Staatsangehörige waren. Jetzt begriff ich, daß meine Vermutung falsch gewesen war. Nein, niemand hatte mich verleumdet, aber ich gehörte einer Gruppe an, die verurteilt war - zunächst nur zur Deportation. Es handelte sich um die erste von den Behörden organisierte Massendeportationen von Juden.(...) Alles war genau vorbereitet, alles lief ruhig ab, es wurde weder gebrüllt noch geschossen. Offensichtlich sollte die Aktion der Bevölkerung nicht auffallen. Wohin der Zug fuhr,sagte man uns nicht, doch bald war klar, daß die Fahrt in Richtung Osten ging, also zur polnischen Grenze. Wir froren, denn die Wagen waren nicht geheizt, aber jeder hatte einen Sitzplatz. Verglichen mit späteren Transporten waren es noch menschliche, ja nahezu luxuriöse Bedingungen."
Marcel Reich-Ranicki (geb.1929) zit. nach: Berlin (ein literarischer Reiseführer) hrsg. von Ansgar Bach Darmstadt: 2007 s. 128f
(Reich-Ranicki ging übrigens als kleiner Junge in die heutige Lietzenseegrundschule - Witzlebenstr.)
Joachim Neu - Gastautoren, Geschichte - 24. Oktober 2011 - 00:04
Tags: berlin/charlottenburg/gedenken/kurfürstendamm/nationalsozialismus
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