„Gespräche mit Arbeitslosen“
von Nadja Messerschmidt
Der folgende Text ist die schriftliche Fassung einer Radiosendung, die am Montag, den 19. März um 20 Uhr auf Alex Berlin zu hören ist.
[Update: Die Sendung steht jetzt auch im KiezRadio Klausenerplatz als Podcast zur Verfügung.]
Moabit – das ist ein Bezirk mit ca. 70.000 Einwohnern, einer sozial und ethnisch gemischten Bevölkerung, mit diversen Sozialberatungsstellen und Luxussanierungen, v.a. im Stephankiez. Er wird von den Wasserstraßen Spree, Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal, dem Westhafenkanal und dem Charlottenburger Verbindungskanal umschlossen und ist durch 25 Straßen-, Bahn- und Fußgängerbrücken mit der umgebenden Stadtlandschaft verbunden. Von dem Straßenmusiker Michael, der sich selbst Gitarre nennt, wird dieser Bezirk wie eingangs besungen, und er bildet auch den Ort für das Buch der Autorin: „Gespräche mit Arbeitslosen“, erschienen 2011 im Verlag C& N, Berlin.
„Was heißt Arbeitslosigkeit, wie kann sie einem begegnen, und warum wird über eine Lebenslage, in die jeder geraten kann, so wenig erzählt?“
So heißt es im Klappentext des Buches, das 12 Geschichten arbeitsloser Menschen erzählt. 6 dieser Gespräche, die in dem Band beschrieben werden, und mit ihnen die Personen, hat die Autorin in den Jahren 2008 bis 2010 vor dem Jobcenter in der Berlichingenstraße geführt, 6 weitere Gespräche sind privaterer Art und beschreiben die Erlebnisse arbeitsloser Menschen in diesem Berliner Stadtteil – einem Bezirk, der vielleicht mehr als manch anderer von den Brüchen erzählt, die zu und zu denen Arbeitslosigkeit führt. Warum wurde dieses Buch geschrieben? Zum einen möchte die Autorin, wie sie selber sagt, den Bildern, die in den Medien über Arbeitslose verbreitet werden, entgegenwirken, zum anderen ist es von der Auffassung getragen, dass, solange wie nicht über Arbeitslosigkeit erzählt wird, diese Situation als normal erscheint – das darf und kann aber nicht sein.
Im Erdgeschoss eines rotgelben Backsteinbaus im Nordosten Moabits hat neuerdings ein Luxusrestaurant unter einem exotischen Namen geöffnet.
Das Luxusrestaurant ist so weiß und so neu und so auffallend anders, dass ich unweigerlich staune, staunend stehenbleiben muss. Zwei Frauen stehen mit ihren Einkaufstaschen vor der Eingangstür und lesen sich langsam und genau die angeschlagene Speisekarte vor. Ich stehe dabei, lese mit und studiere die Preise. „Aber das passt doch gar nicht hier her!“, höre ich die eine sagen, und ich lese Preise um die zwanzig Euro für ein Hauptgericht. „Nein“, antwortet die andere, „aber vielleicht ist das für Feiern, die müssen sich ja auskennen, dass sie das hier machen.“ „Na ja, für Feiern“, und dann gehen beide nochmal ums Eck und betrachten durchs Fenster die Bar, die jetzt schon geöffnet hat. Im Fenster stehen die leeren Gläser auf dem Kopf im Regal, hinter dem Tresen der Keeper und neben dem Eingang links und rechts zwei Bartische mit je einer großen roten Kerze, die aber noch nicht brennen. Auf den Tischchen vor der geöffneten Eingangstür liegen Visitenkarten mit der Anschrift und der Emailadresse des Lokals. Vor dem Lokal ist über Eck auf dem Gehweg ein Pavillonzelt aufgestellt über einer großen, blumengeschmückten Tafel samt Stühlen.
Die zwei Frauen sind nochmal zur Speisekarte zurückgekehrt. Ich ziehe mir eine Visitenkarte. Eine Mutter mit ihren zwei Kindern geht vorüber. Der kleine Junge zupft sich auch eine Karte, legt sie aber gleich wieder zurück. „Alles blabla“, sagt er, wohl, weil er noch nicht lesen kann, aber seine Mutter bestätigt ihn: „Ja, Bla Bla!“ und geht mit ihren Zweien stracks weiter, an den Frauen und mir vorbei, nach Hause. Die Kerzen aber, die auf der Tafel unter dem weißen Pavillonzelt stehen, sind aus einem Billigladen.
Das Restaurant, hinter dem man auch noch ein Hotel vermutet, liegt in einem Straßendreieck zwischen Bibliothek und Kirche. Sehr groß, sehr weiß, sehr weitläufig die Inneneinrichtung. Neben dem Restaurant ein Lottogeschäft, ein Internetcafé und ein Spätkauf , vor dem schon am frühen Nachmittag die Trinker sitzen.
Das Einfallsgebiet des Luxusrestaurants mit dem exotischem Namen und den orientalischen Speisen scheint der nahegelegene Hauptbahnhof zu sein. Geschäftsessen lassen sich vermuten, etwas Vorzeigbares, das man zu bieten hat, ein vorweisbares Geschäftsessen inmitten von etwas Neuem, das entsteht. Und vor allem: das jetzt entsteht. Für die Gäste, die sich vom Hauptbahnhof abholen lassen werden. Zumindest weist die Türrichtung des Lokals - in Luftlinie - dorthin. Am Ende der Straße wird ein großes neues Einkaufscenter errichtet, während der HERTIE von der Turmstraße nur ein paar Querstraßen weiter im Spätsommer letzten Jahres pleite gemacht hat. Das Gebäude steht jetzt leer, bleibt ungenutzt. Aber hier ist ein neues Dreieck.
Das ist Moabit, ein Bruchstück Moabits, ein Ausschnitt Berlins, ein Puzzlestück, ein Teil inmitten von Brüchen, eine Insel, wie die Moabiter selber sagen, ein Teil der Neuen Mitte, zu der dieser Stadtteil mittlerweile gezählt und auch so gehandelt wird.
Die Menschen, die ich vor dem Arbeitsamt getroffen habe – sie wohnen hier oder in den angrenzenden Stadtteilen ringsum. Sie sind Wirtschaftswissenschaftlerin, Handwerker, Elektriker, Absolvent eines Philosophiestudiums, Künstler, Selbständiger, Journalistin, Literaturwissenschaftlerin, Hauswirtschafterin, Krankenpfleger.
Die folgende Geschichte erzählt von einer Frau aus der Türkei, die als Hauswirtschafterin in verschiedenen Stellen arbeitet, und die wegen ihres Sohnes zum Jobcenter gegangen ist.
Viele Türken sind es, Frauen und Männer. Und da geht eine sehr schlanke, zierliche junge Frau über die Straße, auf die andere Seite. Etwas schneller muss ich gehen, um sie zu erreichen.
„Wenn Sie wollen“, meint sie, als ich sie um ein Gespräch bitte. „Wenn Sie wollen“, und blickt nicht hoch, blickt weiter auf den Boden. Ja, sie spreche Deutsch, sagt sie jetzt, sie sei hier zur Schule gegangen, habe Hauswirtschafterin gelernt. Das sei ihr Beruf, sagt sie, und steht ganz gerade vor mir. „Ich bin nur gerade traurig“, sagt sie dann und blickt hinüber auf die andere Seite, auf das Amt, das rote Backsteingebäude und hin zur Eingangspforte, und als ich nach dem Grund frage, erzählt sie, sie sei wegen ihres Sohnes hier gewesen. „Er hat verloren.“
Einen Ausbildungsplatz wollte sie haben für ihren Sohn, deshalb sei sie gerade hier gewesen, aber es gebe keinen. Er müsse selber einen finden. „Aber wo?“, sagt sie und blickt mich an, ratlos, fragend. 18 sei ihr Sohn, habe den 10.-Klasse-Abschluss nicht geschafft, auch nicht beim zweiten Mal.
Die Frau wirkt jung, Anfang vierzig ist sie, eine einfache Frau, sehe ich in ihrem Gesicht. Sie trägt ein helles geblümtes Kopftuch und darunter ein schwarzes. Mit einem hellen Stoffmantel ist sie bekleidet, schwarze lange Hosen schauen hervor. In ihrer Umhängetasche quer über ihre Brust hat sie eine Menge an Unterlagen, auch ihre Einladung zum Arbeitsamt ist dabei.
Es sei merkwürdig, beginnt sie von sich zu erzählen. Das ganze Jahr über komme kein Bescheid vom Amt, aber dann, in der Urlaubszeit, da kommt sie, die Einladung. Vielleicht als Kontrolle, weil man sich ja abmelden muss? Wie lange sie denn schon arbeitslos sei, frage ich. Oh, viele Jahre, viele Jahre. Und Erwartungen? Erwartungen habe sie nach all der Zeit überhaupt keine mehr. „Ich bin jetzt zweiundvierzig“, sagt sie, als würde das alles erklären, und: „Es wird nur immer so weiter gehen, mit ABM, MAE, RB (1), alles Maßnahmen, die kenne ich schon, und davor gab’s nochmals Schule“ – Lebenslauf und Bewerbungen schreiben lernen. Damit habe sie bei verschiedenen Firmen gearbeitet – Lotux und Goldnetz nennt sie als Namen, und die merke ich mir. Von diesen Firmen, ja, Firmen, so sagt sie es, sei sie an Kindergärten vermittelt worden, in Altersheime, in Büros. Sie habe in all den Jahren viele verschiedene Stellen gehabt. Aber eben immer nur für neun, sechs oder jetzt sogar nur für vier Monate, klagt sie. Kaum habe sie sich an eine Stelle gewöhnt, müsse sie wieder gehen, sich wieder arbeitslos melden.
„Wieder hierher!“, sagt sie und zeigt auf die andere Straßenseite. „Wenn es wenigstens für ein Jahr wäre!“ Aber Stellen hätte das Arbeitsamt nicht, eine richtige Stelle könne nur sie selber finden. „Aber wo?“ - In den Kindergärten habe sie gekocht. Das wäre gut gewesen, das hätte sie gern gemacht. Ob sie allein vermittelt worden sei oder mit anderen zusammen, möchte ich wissen. „Nein“, sagt sie, überlegt dann kurz, „allein nie, mit zwanzig anderen, zwanzig andere waren auch dabei, ja, so viele waren wir.“ RB sei aber nicht schlecht, wirft sie zwischendurch und mit einem schnellen Blick aus den Augenwinkeln ein, „900 Euro gibt es da und es ist mit Lohnsteuer.“ Nur Putzen gehen, das wolle sie nicht mehr.
Die Frau kommt aus Ostanatolien, sie ist dort in einem Dorf geboren. Als 17jährige kam sie 1985 nach Deutschland. Ein Teil ihrer Familie war schon hier gewesen, als sie und ihre Geschwister nachgezogen seien. Die Familie lebe jetzt in Moabit und in Gesundbrunnen. Nach der Hauswirtschaftsschule hat sie geheiratet und drei Kinder bekommen. Die Töchter sind jetzt 8 und 10 und besuchen die Grundschule, ihr Mann arbeitet in einem türkischen Lebensmittelgeschäft. „Er bekommt aber weniger.“ Er ist also nicht der Chef. Ob sie in die Türkei zurückkehren wolle? „Ja, gern“, das sagt sie ganz offen, und ihr müdes Gesicht wird klar. „Aber das geht nicht, wegen der Kinder. Das ist schwer.“ Ich will sie nicht weiter fragen. Festgeklemmt ist ihre Situation.
Wir haben uns vor dem Stadtschloss mit dem großen Kinderspielplatz unterhalten, sonnig ist es, warm, die Kinder spielen im Freien, kreischen, schwatzen, lachen.
Ob sie sich Sorgen mache, jetzt, wegen der Wirtschaftskrise, frage ich sie noch, bevor wir uns verabschieden. „Ja“, sagt sie, „ja, denn alles wird teurer und nichts wird gemacht in Deutschland.“ Und was sie am liebsten zu Hause tue, jetzt, wo sie wieder auf Arbeitssuche sei? „Kochen. Für meine Kinder und für meinen Mann, etwas Schönes kochen, dass es uns gut geht.“ „Nun gut“, meint sie dann, „bis 13 Uhr werde ich noch warten, dann ist mein Termin.“ Und ich? Ich drücke ihr die Daumen.
Die folgende Geschichte erzählt eine Situation vor dem Jobcenter.
Dienstags ist auf dem Amt weniger los und an diesem Dienstag sieht es auch noch nach Regen aus. Nieselregen sprüht auf die Straße, als ich das Jobcenter erreiche. Es ist später Vormittag, ein verregneter, grauer Dienstagvormittag im März. Ein Türke in weißem Blazer eilt an mir vorbei mit Papieren unter dem Arm, ein anderer Türke mit Wollmütze auf dem Kopf steigt gerade aus dem Auto und hebt seinen Ordner vom Nebensitz, sagt noch schnell was ins Auto hinein zu seinem Begleiter, ein kleinerer Mann, vielleicht auch ein Türke, läuft Richtung Siemensstraße, und auch er trägt ein großes weißes Kuvert bei sich, zusammengerollt, geschützt vor dem Regen.
Vor dem Amt, direkt am Eingang, haben sich drei Frauen in Regenkleidung aufgestellt, blauweiß, rot und violett sind ihre Jacken, und die eine erklärt den zwei anderen die Welt. Früher habe es hier im Bezirk nur Arbeiter gegeben, aber heute seien hier nur Ausländer, sagt sie. Warum Arbeiter oder Ausländer?, frage ich mich.
Die Frau steht so da mit ihrem blauweißen Regenumhang, über dem Umhang eine Umhängetasche, unter dem Umhang helle Jeans, Ende vierzig schätze ich sie. Den Unmut sähe man ihr nicht an, wenn sie nicht reden würde. „Ja, 1900 war das“, sagt sie und bringt ihre Rede zum Abschluss, und die zwei anderen Frauen, dicker als sie und mit modischen Haarschnitten in Knallrot und Eisengrau, irgendwie vom Friseur um die Ecke, nicken, rauchen und stimmen ihr zu. 1900 – so sagt sie es wirklich und ich frage mich, einhundertundacht Jahre später, wie weit denn die Erinnerung der Rednerin reicht. Die hat einen hellroten Pferdeschwanz, der über den Nacken fällt. Etwas breitbeinig steht sie da. Quer über die Straße blickt sie und dann in die Gesichter der zwei rundlichen Frauen, die vor ihr stehen, auf deren rauchende Münder, und erzählt weiter von Neukölln und vom Prenzlauer Berg, von den Problembezirken Berlins. Da hieße es doch immer, dass es am Richardplatz so kriminell sei, alle paar Stunden werde da jemand überfallen, aber nein, der kriminelle Ort sei das nicht. Das sei der Prenzlauer Berg. Ja, von einem Bekannten habe sie es gehört, der sei überfallen worden im Prenzlauer Berg, in der Scherenbergstraße, aber den Straßennamen raunt sie den zwei anderen nur leise zu, „Wisst ihr, ja?“, und ich weiß es jetzt auch, und der lag sechs Stunden betäubt da, einfach so, auf der Straße, und als er aufgewacht sei, sei alles weg gewesen, Geld und Papiere, aber in Neukölln, wo seine neue Wohnung ist, sei ihm das noch nie passiert, die ganzen neun Jahre lang nicht, so was. Gottlob, denke ich, mein Gott, sechs Stunden! Und dann weiß auch ich: Nein, nicht in Neukölln und am Richardplatz, im Prenzlauer Berg – da ist die Gefahr. Im Osten, im Westen nicht.
Die zwei Frauen in lila und roter Regenjacke hören der Frau mit dem Pferdeschwanz und blauweißem Umhang aufmerksam zu und nicken. Sie stehen ein wenig im Weg, die drei, und merken das gar nicht. Um sie herum gehen die Leute vom Eingang heraus auf die Straße.
Afrikaner lachen so viel, hatte mir einmal ein Freund gesagt. Daran muss ich jetzt denken und spreche ich ihn an, einen afrikanischen Mann in mittlerem Alter, der auf die Straße tritt. Und plötzlich sind die drei Frauen, die da am Eingang stehen, weit, weit weg. Etwas Deutsch spreche er, „etwas“, sagt er, und so erfahre ich nicht viel. Was ich erfahre: Der junge Mann, Anfang dreißig, ohne Familie hier in Deutschland, kommt aus Kinshasa. Philosophie habe er dort studiert.
Der junge Mann aus Kinshasa ist klein, zierlich ist er eher, was mich erstaunt. Er hat die Hände übereinandergelegt, in der einen trägt er seinen blauen Rucksack mit Papieren, der grüne Parker ist offen. Sein Asylantrag sei vor wenigen Tagen genehmigt worden. „Asyl“, sagt er, und bei dem Wort wird sein Gesicht blass, zuckt leicht zusammen. „Sie wissen, was das ist?“ fragt er mich, blickt von der Seite her, und als ich nicke, fügt er hinzu: „Asyl für sechs Jahre“, und da spricht Erleichterung aus seinen Augen. In dem Moment freue ich mich mit ihm. Sechs Jahre wird er in Deutschland leben können. Ja, und jetzt suche er eine Arbeit. “Ich habe mich gerade angemeldet. Eine Arbeitserlaubnis für dreieinhalb Jahre habe ich erhalten“, sagt er leise. „Wo werden Sie nach Arbeit suchen?“ frage ich zurück. „In Restaurants, Putzen ….“ Er bricht den Satz ab, blickt in den Himmel, blickt zurück, blickt mich dabei an, und ich denke an die vielen Afrikaner, die in Moabit und im Wedding leben. Ob er weiter studieren wird, hier in Deutschland? „O nein“, sagt er, „ich habe studiert.“ Krankenpfleger möchte er werden.
Arbeiter – oder Ausländer. Und dann läuft er Richtung Turmstraße, Tiergarten, Richtung Afrikahaus, wo die Veranstaltungen mitunter privat sind, Richtung Internetcafés, die von Afrikanern betrieben werden und von denen einige auch schon wieder geschlossen sind.
„Keine Kontakte, nein?“, sagt er im Weggehen zu mir. Nein, keine Kontakte, keine Kontakte mehr, denke ich. Vielleicht liegt es am Regen. Ja, es wird der Regen sein.
Der folgende Textauszug ist Teil eines längeren Gesprächs mit einer jungen Frau, die seit ihrer Scheidung alleinerziehend ist, aber keine Ausbildung hatte, keinen Ausbildungsplatz erhielt und jahrelang arbeitslos war. Sie ist als Ein-Euro-Kraft in einer psychiatrischen Einrichtung beschäftigt, hat im letzten Jahr nach einer längeren Probezeit aber nun doch eine Stelle gefunden, wie sie mir später am Telefon erzählte.
Gar keine Ausbildung – ich kann das kaum glauben, frage nach, frage nach ihrer Schulausbildung. Einen Erweiterten Hauptschulabschluss der zehnten Klasse habe sie, sagt sie, und dann: „An den Noten hat es nicht gelegen.“ Später, als ich sie nach ihren Erwartungen ans Amt frage, wird sie sagen: „Nee, habe ich nicht mehr. Da muss man sich wirklich selber drum kümmern. Ich glaub, man darf einfach gar keine Erwartungen haben.“
Verwaltungsfachangestellte habe sie werden, dann bei der Wasserschutzpolizei anfangen wollen. „Nee, die wollten mich einfach nich“, winkt sie ab. „Ich hab immer Absagen gekriegt und warum, schrieb keiner. Realschule und Gymnasium, damals war das alles nicht im Gespräch. Ich wollte einfach nur ’ne Ausbildung machen. Ja, ist nichts draus geworden“, fügt sie hinzu. Wie sie das so sagt, mit leiser Stimme, ein wenig lakonisch, aber die Müdigkeit klingt doch hervor.
Beide rühren wir in unserem Kaffee. Obwohl ich darum weiß, kann ich es noch immer nicht glauben – ganz ohne Ausbildung und dann eine Arbeit in der Psychiatrie. Aber dann beginnt Frau C. doch zu erzählen. „Also ich bin auch Pflegehelferin. Das hab ich zwar gemacht, das kann ich auch, aber da ist auch kein Bedarf.“ Warum zwar und warum auch? Auch – weil Sozialstationen sie als Ungelernte nicht übernehmen können und werden, zwar – weil sie als Ungelernte von Qualifizierungsträger zu Qualifizierungsträger weitergegeben wird. Fast wie ein Karussell das Ganze.
Wie war ihre Situation damals gewesen? „Also ich war beim Sozialamt“, so holt Frau C. aus, „und die haben mir gesagt, dass sie ein Angebot haben, dass ich da hingehen könnte, dass ich halt was hätte, dass das dann auch mit `ner Jobübernahme verbunden sein könnte. Na ja, die reden einem dann die Sterne vom Himmel. Achtunddreißigeinhalb Stunden in der Woche Arbeitszeit, dann acht Wochen Praktikum, und da hab ich gesagt, ist toll, würde ich gerne machen, und da hab ich da halt angefangen.“ Die erste Arbeitsstelle war ein Seniorenheim, die zweite ein Kindergarten, die dritte Betreutes Wohnen. Für ihre jetzige Arbeit sei der Fallmanager auf sie zugekommen.
Alle Stellen seien gleich ineinander übergegangen, erzählt sie, als ich danach frage, „also richtig Pause hab ich bis jetzt nicht gehabt“, jede Stelle immer jeweils für ein Jahr mit acht Wochen dazwischengeschobenem Praktikum – so dreht sich das Ganze schon über fünf Jahre.
Als Ein-Euro-Kraft hat Frau C. weder Anspruch auf bezahlten Urlaub noch auf Weihnachtsgeld. „Wenn ich halt Urlaub nehme, kriege ich den nicht bezahlt, unbezahlten Urlaub eben, und wenn ich krank bin, krieg ich auch nichts bezahlt.“ „Waren Sie denn mal krank?“ frage ich sie. „Nee“, sagt sie, „nie.“ „Sie gehen also trotzdem hin?“ „Ja“, sagt sie, auch wenn es eigentlich gar nicht gehe. „Aus Angst, den Job zu verlieren?“ „Nee“, sagt sie, „weil die Einnahmen fehlen. Also neun Euro am Tag, das macht sich schon bemerkbar.“
Von ihrer Familie kann Frau C. keine Unterstützung erhalten. Ihre Mutter sei vor zwei Jahren gestorben. „Meinen Vater kenn ich nich. Der hat uns verlassen, da war ich vier. ’nen Bruder habe ich noch“, fügt sie hinzu. Der Bruder sei aus der zweiten Ehe der Mutter. Nach deren Tod sei er nach Hamburg zu seinem Stiefvater gezogen. „Da ist auch kein Kontakt mehr. Ab und zu mal ’ne Karte, aber das war’s dann auch.“
Und ihr Urlaub, ihre Erholung? „Wenn jetzt Sommerferien sind, muss ich drei Wochen Urlaub nehmen, Urlaub, fünfzehn Tage“, sagt sie. Das mache sich sehr bemerkbar. Seit Jahren besuche sie eine Schulfreundin im Vogtland. „Ach ja“ sagt sie, „das schöne Vogtland“, und sie sagt das so, als würde sie dort jeden Grashalm kennen, oder jeden zweiten. Die Verpflichtung, sich wegen dieser vorübergehenden Ortsabwesenheit beim Amt ab- und wieder anmelden zu müssen, empfinde sie als komisch. „Als komisch?“ „Ja. Es nervt mich halt einfach, das zu sagen. Man kommt sich irgendwie vor wie so ’n Gefangener, find ich, dass man immer sagen muss, wo man hingeht, was man macht und alles. Man kommt sich schon ’n bisschen blöd vor, ehrlich gesagt kontrolliert.“
„’n festen Arbeitsplatz“, das ist das Erste, was sie sich wünscht. „Soviel Geld, dass es halt reicht“, das ist das Zweite. „Sonst, Wünsche“, sagt Frau C., weil ich sie danach frage, „habe ich keine, fällt mir nicht so ein.“ Aber dann fügt sie hinzu: „Also so, wie’s jetzt ist, ist’s ja okay. So ’n Hunderter mehr wäre gut, wenn die Kinder Wünsche haben, dass man die auch mal erfüllen kann, nicht, dass man immer solange hin sparen muss.“ Das klingt beinahe wie eine Entschuldigung. Eine Entschuldigung wofür, frage ich mich.
Keine tolle Urlaubsreise für sich selber, keine teuren Computerspiele für ihre Kinder. „Nee, ich erkläre denen, wenn’s halt nicht geht, geht’s nich.“ Frau C.s ältere Tochter ist in der 6. Klasse und kommt jetzt in die Oberschule, „Realschule kommt ’se“, die jüngere ist in der dritten. „Die kommt jetzt in die vierte. Da ist auch kein Konkurrenzkampf oder so. Ich ermögliche ja schon vieles, aber wenn’s nicht geht, dann geht es nich. Also da sind sie eigentlich ganz vernünftig.“ So erklärt sie mir die Stimmung unter den Schülern in den Klassen ihrer Töchter.
Wir sind am Ende unseres Gesprächs angekommen. Frau C. wird weitere neun Monate als MAE-Kraft arbeiten. In eine Festeinstellung wird sie hier nicht übernommen werden. Wahrscheinlich wird sie ihre Arbeitsstelle wechseln müssen, wieder wechseln.
Dienstschluss ist, nach vier ist es geworden, und ich schaue mich um. „Jetzt wird’s voll“, sage ich, „jetzt kommen die Yuppies.“ „Gehen wir“, sagt Frau C. und steht auf.
Mit dem letzten Textausschnitt kehren wir nach Charlottenburg-Nord zurück - mit einer Momentaufnahme, die etwas aus dem Rahmen fällt.
An einem Abend in den kommenden Wochen bin ich mit Frau E. verabredet. Frau E. ist 49, studierte Literaturwissenschaftlerin und hat vor knapp einem Jahr eine Anzeige in einer der Berliner Stadtzeitungen geschaltet. Akademisches Proletariat soll der Club heißen, den sie ins Leben rufen will, frei nach dem Motto: „Arbeitslose Akademiker, vereinigt Euch!“, so sagt sie mir am Telefon. Man könnte aber auch ein neues Motto wählen, meint sie, etwa „Nicht jammern, sondern unterstützen!“ Ihre Anzeige fiel mir jetzt, per Zufall, in die Hände. Wir wollen uns um sieben in einer Charlottenburger Kneipe treffen, „Zum Anker“ am Ufer der Spree.
„Ich bin gespannt!“, so hatte sie mir am Telefon gesagt. Auf die Anzeige damals, vor einem Jahr, hätten sich zwei, drei Leute gemeldet. Lebenskünstler und sehr linkslastige Leute wären das gewesen und mit ganz skurrilen Lebensstilen. „Also ich hätte doch zumindest erwartet, dass man freundlich miteinander umgeht. Aber das war dann schon merkwürdig mit diesen Berlinern hier“, berichtet sie mir weiter am Telefon. Sie selber sei dann von der Idee wieder abgekommen, habe andere Sachen in Angriff genommen. Bei den Linken war sie gewesen und bei den Grünen. Man könne ja aber noch einmal die Annonce schalten, im Haus der Demokratie vielleicht, wichtig sei eine institutionelle Verortung, um aus einem Treffen einmal im Monat heraus dann auch mal eine Blase steigen zu lassen – „also wenn Du Lust auf Abenteuer hast…“. Nach Abenteuer steht mir nicht der Sinn. Aber auf die Verabredung mit Frau E. bin auch ich gespannt.
Ich würde sie an ihrer Brille erkennen. Ich gebe mich in einer schwarzen Lederjacke zu erkennen. Wer nicht kommt, ist Frau E.
„Sie ist nicht da!“ ruft mir Heinrich vom Tresen entgegen, als ich zur vereinbarten Zeit im „Anker“ erscheine. Ja, er hat es tatsächlich gerufen, und dass er Heinrich heißt, verrät mir ein Paar am Tisch gegenüber, das ihm zuprostet. Beim Wirt bestelle ich einen Tee und erfahre ein Stückchen Charlottenburg, erfahre von der Putzfrau des trinkenden Paares, die vier Stunden Arbeitszeit brauche für ihre Wohnung. „Einmal die Woche, vier Stunden. Und das für vierzig Euro! Und da müssen ja noch mal vierzig dazugerechnet werden“, erklärt die Dame dem dritten Gast, der sich inzwischen zu ihnen gesetzt hat, „denn irgendwo müssen wir ja auch bleiben in dieser Zeit.“ Und mit einem Blick zu mir herüber: „Na ja, oder zwanzig Euro dazu. Prost, Heinrich!“ Habe ich wirklich so erstaunt geguckt? „Ja, also den Lärm, das Klappern, den Staubsauger“, so sagt jetzt auch ihr Mann, „das kann ich nicht hören. Obwohl sie nett ist.“ „Ja, nett ist sie schon, ja, eine ganz Liiiebe.“ Das war wieder die Frau. „Die bringt uns manchmal auch was an Essen mit und so, so eine ist die eben.“ Das war wieder der Mann. „Aber am besten“, das ist wieder die Frau, „wäre doch gleich eine ganze Kolonne. Die ist dann in einer Stunde fertig und aus.“ Da sehe ich schon die Polen an die Spree kommen.
Der Gast, dem sie das alles erzählen, hat vor wenigen Tagen geheiratet – wegen der Krankenversicherung, wie er sagt. Ja, da war das Kleine schon unterwegs und sie, seine Frau, in keiner Krankenkasse. Ja, so etwas gibt es auch.
Neben dem linken Tischbein, da wo ich sitze, steht Heinrichs Aktentasche. Der sieht eigentlich aus, als würde er in Kneipen musizieren, Keyboard oder so, und in der Aktentasche hat er die Noten. Keyboard, ja, das wär‘s, und tatsächlich steht da hinten auch eins. Aber Heinrich trinkt, Bier und Boonekamp, jedenfalls hat er was Dunkelbraunes neben dem Bierglas stehen. Also wird er heute nicht mehr spielen. Oder doch?
Hinter mir steht ein Schiffsmodell der „Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger“ – auch davon habe ich noch nie gehört und auch die Abkürzung DGzRS noch nicht gekannt, und irgendwie passt das gerade dahin, so, wie die Flaschenpost im Fenster. Von der Wand rechts oben blickt Che Guevara in Rot und Schwarz und Weiß, mit kleinem roten Stern auf der Mütze, zu mir herab, die Kartoffelsuppe für dreifünfzig, und dann B.B.B. für zweifünfzig, verrät eine Schiefertafel. B.B.B. Ich rätsel herum: Bockwurst, Bratwurst, Buletten? Aber ich habe keine Lust zu fragen. Hinter dem Wirt, einem Charlottenburger Deutschen, ein Blechschild Deutsch mich nicht voll und daneben Kebabbel.net. Es ist zwanzig nach sieben. „Doch nicht gekommen?“, fragt mich der Wirt, als ich ihm die zwei Euro für den Tee zahle. Nett ist der, trotz des Schildes, nett ist die Frage. „Nicht so schlimm!“, sage ich. Und eigentlich sogar folgerichtig. Als schade empfinde ich es nur, so gar nichts mehr von Frau E. zu wissen, sie eben nicht kennengelernt zu haben. Auch das folgerichtig, mal ganz abgesehen von dem geplatzten Termin?
Was von dem Abend bleibt, sind Requisiten eines Stammtisches, eines Stammtisches, den es nie gab. Und – genau besehen – was wäre auch zu sagen gewesen zu einer Misere „über Generationen!“ – Aber das kam nicht von mir.
(1) Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, Mehraufwandsentschädigungsmaßnahme, Regionalbudgetförderung
Nadja Messerschmidt (promovierte Soziologin, Sprachdozentin, Autorin), Gespräche mit Arbeitslosen, Verlag C & N, Berlin 2011, ISBN 978-3-939953-06-7, www.verlag-cn.de, 9,- Euro zzgl. 2,- Euro Versandkosten
Nadja Messerschmidt - Gastautoren, Gesellschaft - 12. März 2012 - 00:02
Tags: arbeitslosigkeit/berlin/jobcenter/moabit
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