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Wieviele sind wir wirklich?

100 Billionen Kleinstlebewesen bevölkern den Menschen. Er, der Mensch, stellt den Lebensraum für diese Wesen dar, ist quasi der Wohnungseigentümer.
Würde man eine Gentrifizierung auf die Mieter anwenden, die den menschlichen Körper innen und außen besiedeln, und eine Auswahl treffen, wer, wann und wo zu welchen Bedingungen weiterhin seinen angestammten Wohnraum nutzen kann und wohnen bleiben darf, so wäre die Überlebensdauer des betreffenden Menschen nach kurzer Zeit beendet. Die große Anzahl und Verschiedenheit der Kleinstorganismen bedingt die Gesundheit des Menschen. Der Mensch als Vermieter, als Wirt, profitiert folglich von der Verschiedenheit der Mikroorganismen. Geht diese Verschiedenheit verloren, so gerät der menschliche Körper unweigerlich in eine Schieflage und stirbt an der zuvor getroffenen Auswahl.

Als Parallele zu diesem Gedankenmodell kann, ohne zu weit zu greifen, das Vorgehen von Wohnraumeigentümern gesehen werden, denen eine bestimmte Sozialschicht als Mieter nicht genehm ist. Zu Gunsten einer kurzfristigen Profitsteigerung, die durch stark erhöhte Mieten und Gentrifizierungsmaßnahmen erzielt wird, geraten Viertel, aus denen angestammte und andere Mieter vertrieben werden, in die Gefahr einer Wohlstandsvereinsamung. Allein durch Profitmaximierung entsteht damit eine „tote“ Schicht, die sich nur unter dem Aspekt der geldorientierten Werteschaffung zusammensuchen ließ. Diese in sich geschlossenen, finanzstarken, scheinbaren Oasen für eine bestimmte Auswahl geraten ins Abseits, da sie ohne die notwendige Vielschichtigkeit langweilig, einseitig und auf Dauer unattraktiv werden. Für eine gesunde Lebensqualität in einem Wohnblock oder einem Kiez ist ein offenes Sozialgefüge nötig, um Lebensfreude, Kreativität und Wohnqualität wachsen lassen zu können.

Angeregt zu diesem Gedankenspiel wurde ich durch Hans Georg Wagners neuem Buch „Neben Ich. Wieviele sind wir wirklich? Das Buch, das weiter fragt“.

  
Woraus bestehen wir eigentlich im Innersten? Wie viele Lebensformen wurden im Laufe der Evolution in uns „verbacken“? Wie passen sie zusammen? Welchen Einflüssen dieser vielen Grundbestanteile unterliegen wir? Und wer ist „wir“ dann überhaupt? Wie funktioniert das Konglomerat Mensch? Dieses Buch stellt die spannendsten Fragen zu unserem Menschsein. Es zeigt, dass vieles doch anders ist als wir vielleicht vermuten, oder als die Geschichte von Adam und Eva uns erzählen möchte. (Arnulf H. Clarenbach)

Die vom Autor aufgeworfenen Fragen stellen unserer Lebenswirklichkeit provokant und ohne Scheu auf den Prüfstein, ohne sich der Gefahr auszusetzen, besserwisserisch Antworten geben zu wollen. Vom Kleinsten ins Größte, von der Frage, wie souverän unser Ich ist, welche Rolle der Drogenkonsum spielt, bis hin ob es ein Paralleluniversum geben könnte und womit wir verschränkt sind, reicht der Bogen.

 
Wer hat sich nicht schon gefragt, was eigentlich der Grund ist, warum er oder sie sich manchmal selbst nicht recht versteht? Warum passen oft gefühltes Befinden und verstandesmäßiges Tun so gar nicht zusammen? Wer oder was in uns hat das Sagen? Ist es die Lust auf etwas? Und woher kommt dann das Muss, das oft ganz etwas anderes von uns fordert? Wie souverän ist unser Wille? Kann er wirklich beschließen, ohne dass all die anderen Bestandteile unseres Wesens ein Wörtchen mitreden?  - Solche Fragen ergeben den Grundtenor des ersten Teils von „Neben Ich“.

 
„Werden wir von unserer Darmflora regiert?“ fragen Mediziner plakativ auf einem Kongress in Hamburg“, schrieb Ende September 2012 Christiane Löll, die von einem großen Ärztekongress in der Hansestadt berichtete. Das Thema ist demnach bei den Fachmedizinern angekommen. 4.000 von ihnen hatten sich in Hamburg mit solchen und ähnlichen Fragen beschäftigt.
Das Buch stellt klar: Unsere Darmflora, das sind Billionen von mikroskopisch kleinen Lebewesen, von Bakterien, Pilzen usw. Auf unserer Haut tummeln sich ebenso Billionen von Mikroorganismen. Insgesamt sind diese Lebewesen in uns und auf uns zehnmal so viele wie die Zahl unserer Körperzellen. Aber damit nicht genug: auch die Zellen unserer Organe, der Muskeln, der Haut, des Gehirns bestehen bis zu einem Drittel aus ehemaligen Bakterien. Tausend davon arbeiten beispielsweise in jeder einzelnen Gehirnzelle. Wenn sie nicht wären oder ihren Betrieb einstellen würden, hätten wir keine Chance mehr weiterzuleben. Sie erzeugen unsere Lebensenergie. Sie allein. Wir nennen diese immer noch halbautonomen Ex-Bakterien Mitochondrien. Es sind die Kraftwerke, die uns am Leben erhalten. Wenn sie altern, wenn sie nicht mehr richtig funktionieren, sind Alzheimer, Parkinson, Diabetes die Folge. Der Untergang der Mitochondrien ist gleichbedeutend mit dem Verfall des Organismus und mit dem Tod. Die Fragen, die in diesem Buch aufgeworfen werden, sind erkennbar hochaktuell.

 
Wie gut kennen wir uns wirklich?

Der Mensch besteht also zahlenmäßig vor allem aus Mikroorganismen, aus Mikroben, wie wir sie abgekürzt nennen. Auch genetisch sind „wir“ in der Minderheit, erfahren wir als Leser. Wir haben um die 20. 000 Gene, unsere Mikroben haben Millionen davon. Alle 20 Minuten erneuern sich die Lebewesen in uns und auf uns. Wir bekommen davon überhaupt nichts mit. Was diese Milliarden, Billionen und Billiarden von Einzelwesen in uns und auf uns permanent anstellen, ist noch nicht einmal richtig erforscht. Wir sind ein Konglomerat aus Lebewesen, von denen wir die meisten nicht einmal kennen.

Deshalb bezweifeln vor allem Mikrobiologen, dass wir zusammengesetzte Wesen ein individuelles Ich besitzen – dass es Ich überhaupt gibt – allein gibt. „Unser symbiogenetisch zusammengesetztes Innerstes ist weitaus älter als jene Neuentwicklung aus jüngster Zeit, die wir als menschliches Individuum bezeichnen. Unser starkes Gefühl, anders zu sein als alle anderen Lebensformen, unser Gefühl der Überlegenheit als Spezies, ist Größenwahn.“
Mit diesen Sätzen zitiert der Autor die bedeutende amerikanische Biologin Lynn Margulis.. „Werden wir von unserer Darmflora regiert?“ fragt die Wissenschaft 20 Jahre später und hält dies für wahrscheinlich. Wir und „unsere“ Bakterien, das ist ein aufregendes Thema, von denen auch die meisten Mediziner noch lange nicht genug wissen.

Wie gut kennen wir uns wirklich? Wer weiß schon, dass wir alle fünf Tage mit einer neuen Magenschleimhaut ausgestattet werden, dass die Leber alle zwei Monate eine andere ist, die Haut sich alle sechs Wochen erneuert und jedes Jahr ca. 98 Prozent aller Atome in unserem Körper ersetzt werden? Auch diese Angaben stammen von der Biologin Margulis, die in dem Buch ausführlich zu Wort kommt. Sind wir also immer dieselben? Und wenn nein, wieviele sind wir wirklich?

 
Warum stehen wir auf Drogen?

Fast jeder in Deutschland und in den Ländern der nördlichen Hemisphäre konsumiert Alkohol. Hier werden die größten Drogenfeste der Welt veranstaltet, von denen das Oktoberfest mit mehreren 100 Tonnen reinem Alkoholverbrauch international das größte ist. Es ist das Drogenereignis der Superlative.
Hans Georg Wagner schreibt, dass die Länder dieser nördlichen Hemisphäre gleichzeitig zu den wirtschaftlich erfolgreichsten der Welt gehören. Sie haben außerdem die höchste Lebenserwartung. Und kaum werde China Exportweltmeister, veranstalte es ein noch größeres Oktoberfest als das in München. Es dauere volle vier Wochen. Die Droge Alkohol habe zu unserer Sesshaftigkeit geführt, würden Evolutionsbiologen neuerdings erklären. Die Lust auf Alkohol soll demnach aus Jägern trinkende Bauern gemacht haben, die Bier brauten und Wein aus Wildfrüchten vergoren. Wir sind ihre Erben. Woher kommt dieses Ich der Droge?  Was liegt ihm zugrunde? „Wenn man bedenkt, dass auch im Darm drogenähnliche Substanzen produziert werden, wie etwa das Glückshormon Serotonin und weitere, muss man sich eigentlich nicht wundern, dass unser Konglomerat für Drogen gewissermaßen disponiert ist. Womöglich war es streng genommen noch nie wirklich clean“, heißt es im Kapitel „Warum wurden Jäger zu Trinkern?“ Und weiter: „Es gibt bei Mensch und Tier sogar eine genetische Veranlagung für den Drogengenuss. Die Nahrungsauswahl richtet sich offenbar danach. Wir essen am liebsten das, was Drogenstoffe enthält.“

Das Rätsel um unser Ich der Droge ist ungelöst, schreibt der Autor. Unsere Drogenbeauftragten beschäftigten sich mit Warnungen und Verboten, statt der Frage nach dem Warum auf den Grund zu gehen. Die Droge Alkohol habe mit der Sesshaftwerdung die größte Umwälzung der Menschheitsgeschichte ausgelöst: die Neolithische Revolution. Sie stehe am Beginn unserer Kultur. Sie habe alle Stände und Schichten fest im Griff: Intellektuelle, Mediziner, Manager, Jugendliche und auch Bischöfinnen und Bischöfe. Alkohol sei natürlich ein Suchtmittel ersten Ranges. Die Droge wurde vor etwa 15.000 Jahren in der Steinzeit entdeckt. Doch bis heute fehle eine überzeugende Strategie zum richtigen Umgang mit ihr. Wir bräuchten, so schreibt Wagner, „längst eine Trinkrevolution!“

 
Wie oft gibt es uns?

Fragen zu stellen sei ein Privileg des Menschen, das ihn von den Tieren unterscheidet, heißt es im Vorwort. Fragen hätten uns überhaupt erst die Augen geöffnet: „Was hätten wir wohl je über uns und die Welt erfahren, wenn wir nicht intensiv gefragt hätten?“  steht in einer Buchvorstellung des Verlags.
„Ich bin der mit den Fragen“, so stellt sich außerdem der Autor auf dem Titel des Buches vor „Neben Ich. Wieviele sind wir wirklich?“. Hunderte von Fragen wirft er in diesem Buch auf. Und soweit es schon Antworten gibt, werden sie auch genannt.

Auch Kosmologen, so ist im dritten Teil des Buches „Das Ich des Multiversums“ zu erfahren, stellten sich immer wieder die Frage nach unserer individuellen Einmaligkeit – und viele der renommiertesten Wissenschaftler dieser Zunft verneinten sie. Nein, uns gäbe es keineswegs nur einmal. Sondern von uns Menschen lebten eine unendliche Zahl „exakte Kopien“ in den Weiten des Multiversums auf unendlich vielen Erden, die mit unserer identisch sind. Alles hänge mit allem zusammen, alles reagiere mit allem, sei mit allem verschränkt seit dem Urknall. „Es ist die Quantenphysik, die unser Weltbild so völlig verändert hat. Vieles an ihr ist unerklärlich, manches geradezu spukhaft“, heißt es in der Verlagsankündigung. Auch auf diese Fragen geht Hans Georg Wagner ein.

 
Seine letzten Fragen in dem Buch lauten: Wenn wir einmal nicht mehr wären, wer würde uns vermissen? Würde die Mikrobe Trauer tragen? „Wie kämen Quadrilliarden von mikroskopischen Lebewesen ohne uns zurecht, nachdem sie uns recycelt haben? Würde es neue Symbiogenesen geben, die zu neuen Konglomeraten führen, vielleicht zu neuen Menschen? Wäre die Erde in Milliarden von Jahren wieder von Wesen bevölkert, die uns ähnelten – falls so viel Zeit bliebe und die Sonne noch nicht explodiert wäre?

Was würde im Multiversum geschehen? Wie erginge es all unseren Doppelgängern, die nach der Theorie der immerwährenden Inflation und der Quantenphysik in den unendlichen Weiten des Kosmos leben sollen? Wäre es auch mit ihnen vorbei, oder könnte das Schicksal unserer Doppelgänger auch ganz anders verlaufen? Würden sie erfahren, was mit uns passiert ist?“

 
Es folgt ein quasi versöhnlicher Schluss. Zumindest für den Kosmos: „Es wäre auf einmal ziemlich still auf Planet Terra, so darf man annehmen. Und grün, sehr grün, denn die übriggebliebenen Eukaryoten, vorneweg die Pflanzen und Bäume wären die wahren Herrscher. - Und sonst? Der blaue Planet sähe ohne uns aus der Ferne kaum anders aus. Sollten Doppelgänger ihn später einmal besuchen, hätten sie ein üppiges, wunderschönes Stück Heimat gefunden.“

 
Ein ungewöhnliches Buch. Es lässt einen nicht los und man kommt aus dem Staunen kaum heraus. Klar doch: Es geht ja um uns – so, wie die meisten von  uns sich noch nie gesehen haben dürften. Ich werde es unter einige Weihnachtsbäume legen. Auf die Diskussionen bin ich gespannt. Denn die wird es geben! 

    
 


Rezension von Arnulf H. Clarenbach (Eurasisches Magazin) zu: „Neben Ich. Wieviele sind wir wirklich?“ von Hans Georg Wagner, Eurasischer Verlag, Altomünster 2012, 404 Seiten, ausführliches Sach- und Personenregister, Literaturangaben (19,90 Euro) ISBN-13: 978-3935162043. (Siehe dazu auch einen Buchauszug).


T. Wiese - Gastautoren, Philosophisches - 13. Dezember 2012 - 00:24
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zwei Kommentare

Nr. 1, Rolf, 14.12.2012 - 10:28
Ein sehr interessanter Gedankenansatz in der Einleitung zur Rezension.
Nr. 2, maho, 14.12.2012 - 21:55
Das finde ich auch.
... Diese in sich geschlossenen, finanzstarken, scheinbaren Oasen für eine bestimmte Auswahl geraten ins Abseits, da sie ohne die notwendige Vielschichtigkeit langweilig, einseitig und auf Dauer unattraktiv werden. ..

Ein Foto dazu hier:
http://blog.klausenerplatz-kiez.de/archi..

Das ist eine dieser neuen Anlagen. Sie befindet sich mitten in einem typischen Berliner Kiez. Liegt in einer kleinen Straße, daneben alles Altbauten. Dort das Leben, bunt und munter – hier abgeschottet, steril und einfach “tot”

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