Geschichtliche und persönliche Erschütterungen
Mit Genehmigung des OEZBerlin Verlages drucke ich für diese Sonderausgabe meines Rundbriefes zwei Seiten ab aus dem Buch „Erschütterungen – der Versuch eines Lebens“, Ute Becker, erschienen im OEZ Berlin-Verlag, Inhaber Detlef W. Stein, Hubertusstraße 14, 10365 Berlin, 2010, ISBN 978-3-940452-31-3, Broschur, 14 x 21 cm, 432 Seiten, 19,90 €
Am 23. August 1943 begann die eigentliche Luftschlacht um Berlin, die unseren Kiez um den S-Bahnhof Charlottenburg sofort in Mitleidenschaft zog. Aber lesen Sie selbst:
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Mein Geburtshaus & die Luftschlacht um Berlin & die „Entleerung“ der Städte – Die Jahre 1943 und 1944
In der Mommsenstraße polarisierte sich die bürgerliche Welt. Die eine Hälfte der Bürger war zu „Ariern“, sogar zu Parteigenossen, aufgeblüht, die andere Hälfte der Bürger zu „Juden“, Unpersonen, verkümmert. Eine dritte Gruppe, die, die nicht ihr Fähnchen in den Wind des „Tausendjährigen Reiches“ hängten, waren hier in der Minderheit – wie in meinem Geburtshaus. Wer die Vormieter unserer Wohnung im zweiten Stock waren, kann ich nicht mehr herausfinden. Die Redaktion der „Jüdische Liberale Zeitung“ im 1. Stock musste ihre Räume bereits im Jahr 1933 aufgeben, in der dann eine Rechtsanwaltsfamilie, Parteigenossen, residierte. Die Familie Selig, die Berlin rechtzeitig, aber nicht freiwillig, verließ, hatte im 3. Stock gewohnt. Definitiv sind alle Wohnungen der jüdischen Nachbarn „freigemacht“ worden. 55.000 Juden, die vor dem Dritten Reich in Berlin wohnten, wurden fast alle deportiert und ermordet. Die „arischen“ Rechtsanwälte konnten sich den lukrativen Klientele-Kuchen ihrer 1.800 deportierten oder vertriebenen jüdischen Kollegen teilen; ihre Solidarität ließ deshalb zu wünschen übrig. Aus der Patentanwaltschaft wurden neunzig jüdische Kollegen aus Deutschland vertrieben. Mein Vater wird sich bewusst gewesen sein, dass durch die Eliminierung seiner als „Juden“ stigmatisierten Standesgenossen, die Klientele für ihn und die „arischen“ Patentanwälte automatisch größer wurde. Ein Onkel von Marcel Reich-Ranicki war einer dieser entrechteten Berliner Patentanwälte. Ich verfüge über Listen des Reichspatentamtes, in denen von Amts wegen ab 1938 die jüdischen Patentanwälte und „Mischlinge“ mit roter Tinte fein säuberlich ausgestrichen worden waren.
Mit dem Luftangriff der Briten in der Nacht vom 23. zum 24. August 1943 begann die eigentliche Luftschlacht um Berlin, die Bombardierung der Berliner Innenstadt. Gegen 23.45 Uhr näherte sich vom Westen her ein 150 Kilometer langer Fliegerteppich mit etwa 250 britischen Flugzeugen. Fliegeralarm war um 23.41 Uhr ausgelöst worden, Entwarnung um 2.35 Uhr gegeben: vier Stunden nächtlicher Schrecken. Im ersten Lagebericht des Polizeipräsidenten als örtlicher Luftschutzleiter vom 24. August heißt es: „Berlin wurde in der Zeit von Fliegeralarm bis Luftgefahr vorbei von etwa 250 feindlichen Flugzeugen im Hochflug aus westlicher und südwestlicher Richtung bei klarem Himmel mit Minen-, Spreng-, Brand-, und Phosphorbrandbomben angegriffen. Der Schwerpunkt des Angriffs richtete sich hauptsächlich auf Wohnviertel der Abschnitte. Steglitz, Schöneberg, Wilmersdorf und Tempelhof. Es entstanden zahlreiche Einsturzschäden und Brände.“ Noch hatten die Polizeibehörden Zeit, die Schäden aufzulisten, täglich zu aktualisieren. Dieser nächtliche Luftangriff auf Berlin war der bis dahin schwerste. Er wurde aber mit jedem weiteren Angriff übertroffen. Es folgten Luftangriffe am 31. August zum 1. September 1943, am 3. zum 4. September 1943, am 18. November 1943. Als in jener Nacht vom 23. zum 24. August 1943 unser Haus getroffen wurde, gab es in unserer Wohnung „nur“ Wasserschäden, gespaltene Wände, zersplitterte Scheiben, heraushängende Türen, gebrochene Fensterkreuze. Mein Vater hatte alle Schäden auf zwei Schreibmaschinenseiten aufgelistet. Wir Heutigen würden uns weigern, in einer solchen Wohnung wohnen zu bleiben. Eine Schreibmaschine selbst, wichtigstes Arbeitsmittel der damaligen Zeit, musste mein Vater nach einem Luftangriff im März 1945 vollständig instandsetzen lassen. Es würde nicht bei dieser Reparatur bleiben. Die beiden Kojen mit allem Hausrat im Wassersportheim waren bei den Bombenangriffen im November und Dezember 1943 total zerstört worden. Unsere Mutter verlor ihren Fluchtpunkt an der Havel, verlor Wohlstand, Sicherheit und Nerven. Aber es sollte noch viel, viel schlimmer kommen. Die Mutter unseres Vaters wurde in Hannover total ausgebombt.
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Alle „Feindflieger“ von Westen flogen über die westliche Innenstadt, über Spandau, Charlottenburg, quasi über mich hinweg. Allein in jener Nacht warfen die Briten, laut korrigierter Lageberichte vom 26. und 27. August und 8. September, 171 Minenbomben, 1.000 Sprengbomben, 250.000 Brandbomben, 20.000 Phosphorbrandbomben bzw. Phosphorbrandkanister, 400 Flüssigkeitsbrandbomben, 500 Leuchtbomben über dem nächtlichen Berlin ab. In weniger als drei Stunden wurden zahllose Wohnhäuser total zerstört, schwer zerstört, mittel zerstört, leicht zerstört. Zahllose Häuser mussten geräumt werden. Zehntausende Bewohner wurden obdachlos, Zivilisten, Kriegsgefangene, Soldaten, Polizisten vermisst und getötet. Den S‑Bahnhof in der Nähe meines Geburtshauses trafen 1 Sprengbombe, etwa 20 Phosphorbrandbomben und Brandbomben. Das Bahngelände, unser Wohnhaus, unser Nachbarhaus und andere Häuser um den S‑Bahnhof Charlottenburg wurden getroffen. Zur Bekämpfung kleinerer Schäden, insbesondere zur Bekämpfung der Brandbomben, war der „Selbstschutz“ und der „Erweiterte Selbstschutz“ eingerichtet worden, eine Funktion, die später mein Vater im Haus einnehmen sollte. Nach dem Angriff vom 22./23. August 1943 wurde unser Haus am 22. November 1943, am 16. Dezember 1943, am 15. Februar 1944 getroffen. In der Nacht vom 18. und 19. November 1943 bombardierten 2.212 Maschinen der Royal Air Force, man beachte die Steigerung von 250 Maschinen im August auf 2.212 Maschinen im November, die Hauptstadt flächendeckend. Berlin brannte wegen seiner starken Brandwände nicht so „gut“ wie Hamburg, Dresden und Osnabrück und viele andere deutsche Städte, die, wie Kleve, Emmerich, Wesel, Dinslaken, sogar ausradiert wurden. Die barocke Stadt Würzburg wurde in siebzehn (!) Minuten zerstört! Aber die Bomben auf Berlin detonierten dennoch, Brände, Irrsinn und Chaos fanden trotzdem statt. Wenige Tage später notierte Herr Speer in seinen Memoiren „Erinnerungen“ auf Seite 300: „Statt produktionstechnische Querschnitte zu lähmen, begann die Royal Airforce eine Luftoffensive gegen Berlin. Am 22. November 1943, während einer Sitzung in meinem Arbeitszimmer, wurde gegen 19.30 Uhr Alarm gegeben: eine große Bomberflotte war im Anflug auf Berlin gemeldet. ...“
Speer blieb am Leben und rüstete weiter auf. Es war die Nacht, in der das Zentrum Charlottenburgs zerstört wurde, die Gedächtniskirche, das Schloss Charlottenburg und die Bauten im Park, das Romanische Café, das Zoo-Viertel. Ein Großteil des Zoologischen Gartens, der damals größte in Deutschland, war zerstört; von insgesamt 3.715 Tieren überlebten nur 91 Tiere. Es war die Nacht der Zerstörung des Neuen Museums, das 66 Jahre lang auf seine Wiederauferstehung warten musste. Damals von Engländern zerstört, wurde es heute von zwei anderen Engländern, Chipperfield und Happard, wiederaufgebaut. Die Zerstörung unschätzbaren Kulturgutes ging auch auf das Konto der nationalsozialistischen Kriegstreiber und ihrer eitlen Vollstrecker, wie Herr Speer. Nicht jedes Gut konnte mit so viel Liebe, Geld und Willen wiederaufgebaut werden wie das Neue Museum. Es war die Nacht, in der die Jüdische Synagoge in der Oranienburger Straße zerstört wurde, die am 9. November 1938 der Polizeioffizier vom Hackeschen Markt, Wilhelm Krützfeld, vor der Zerstörung bewahrte, als er gegen die SA einschritt, die gefährlichen Brandstifter aus dem Gotteshaus jagte, die Feuerwehr einwies. Haus Vaterland am Potsdamer Platz, Warenhaus Wertheim am Leipziger Platz standen in Flammen, aber auch die Wohnung von Erich Kästner mit seiner 4.000 Bände umfassenden Bibliothek in der Roscherstraße in unserer Nähe. Wir Zivilisten saßen in einer tödlichen Falle, um die uns kein Fronturlauber mehr beneidete. Die Zivilbevölkerung hatte keine Mittel zur Verteidigung, bis auf die Flak der Militärs, in die 1944 dreißig Prozent der Munitionsproduktion ging. Arme Mutter! Nach dem Tod ihrer ersten Tochter, unter Bombenhagel und Entbehrungen nun noch die Sorge um ein einjähriges Kleinkind, dessen Körper dem allgegenwärtigen Stress und Terror Panik, Schreien und Durchfall entgegensetzte. Der Durchfall war gesundheitlich eine Gefahr für mich, und ich wurde zur Belastung für die Familie. Wenn wir nicht im Luftschutzkeller unseres Hauses Schutz suchen mussten, soll ich auf dem Balkon gebettet gewesen sein.
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Ute Becker
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Ute Becker - Gastautoren, Geschichte - 27. August 2013 - 00:02
Tags: charlottenburg/kriegsende/lebensgeschichte/nationalsozialismus/stadtgeschichte
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