Leseempfehlung (14): Chlorgeschmack
Schon der Titel „Der Geschmack von Chlor“ und die nahezu ausschließlich in grünlichem und bläulichem Türkis gehaltenen Seiten machen deutlich: dies ist ein Comic aus der Welt der Hallenbäder. 2009 erhielt Bastien Vivès dafür auf dem renommierten Comic-Festival von Angoulême den Preis als bester Nachwuchskünstler. Was läßt jemanden an gechlortem Hallenbadwasser Gefallen finden?
Niemals wäre der junge Mann ins Hallenbad gegangen, wenn ihm sein Krankengymnast nicht dringend dazu geraten hätte; dafür ist sein Abscheu gegen Wasser zu groß. Vivès beobachtet ihn dabei genau: wie er vor dem Strahl der Dusche zurückweicht, seine vom Chlor brennenden Augen reibt, immer wieder am Beckenrand hängt und tolpatschige Schwimmbewegungen macht. Die Farbgebung beschränkt sich neben Türkis auf Beige für die Körper und Schwarz für die Badesachen, die Bilder haben klare Linien und sind aufs Wesentliche reduziert, um sich so auf die Hauptsache zu konzentrieren: die Gefühle des jungen Mannes, die sich in seiner Körperhaltung und seinem Gesichtsausdruck widerspiegeln. Gesprochen wird wenig, und wenn er und die junge Frau, die er dort kennenlernt, sich unterhalten, dann geht es dabei fast nur um Schwimmtechniken und -erfolge.
Überhaupt diese junge Frau: wie ein Fisch gleitet sie anmutig durchs Becken, begleitet von seinen sehnsüchtigen Blicken. Und je mehr die beiden sich annähern, desto mehr Gefallen findet er am Wasser und entwickelt sich unter ihrer Anleitung vom wasserscheuen Hund selbst hin zu einem Fisch. Dies ist das eine Thema dieser graphischen Novelle: seine zunehmende Annäherung an das ihm bisher feindliche Element. Und das andere: die wachsende Annäherung zwischen den beiden, natürlich wieder zeichnerisch dargestellt: Schüchternheit beim ersten Kennenlernen, Vorfreude aufs Wiedersehen, Enttäuschung, wenn sie nicht zum mittwöchlichen Treff erscheint. An einer Stelle ist selbst die Sprache nur zu sehen: als sie ihm unter Wasser etwas sagt, was er und die Leser nie erfahren werden. Der Autor antwortete auf entsprechende Nachfragen: « C'est trop personnel. Ce sont des mots que j'avais besoin de mettre dans ce livre mais je ne dirai pas lesquels. » (*)
Dies ist, inmitten der kalten Farbe des Hallenbads, eine poetische, warmherzige Geschichte aus dem Alltag. Sie besticht durch ihren Zeichenstil, z.B. die Art, wie Vivès die Körperpartien unter Wasser von denen über Wasser abhebt, indem er ihre Umrißlinien wegläßt und sie dadurch leicht verschwimmen läßt. Und dann noch: verschiedentlich fällt seitenlang kein einziges Wort, aber wer deshalb mit diesem Comic schnell durch ist, hat halt das beste verpaßt: genau hinzuschauen.
MichaelR
(*) „Das ist zu persönlich. Ich mußte unbedingt diese Worte in dieses Buch schreiben, aber ich sage nicht, wie sie lauten.“ – Hingegen verriet Vivès, daß die junge Frau im Epilog „World of Two“ von Cake singt.
Bastien Vivès, Der Geschmack von Chlor, Berlin (Reprodukt) 2010 – 18 € (in der Bibliothek des Institut français; Signatur: BD Viv)
Originalausgabe 2008 bei Casterman unter dem Titel « Le goût du chlore » (ebenfalls in der Bibliothek des Institut français)
Vom selben Autor in der Stadtbücherei am U-Bahnhof Blissestraße: « Amitié étroite » (Signatur: Französisch Roman Vive)
MichaelR - Gastautoren, Kunst und Kultur - 20. November 2013 - 00:02
Tags: buch/comic/rezension
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