Zwangsarbeiterlager in Wilmersdorf und Charlottenburg
Unter besonderer Berücksichtigung des Lagers des Bezirksamtes in der Wilhelmsaue
Ein Eroberungskrieg wie der Zweite Weltkrieg, der sich über beträchtliche Gebiete erstreckte, erforderte eine gewaltige Menge an Militärpersonal, das dann jedoch als Arbeitskraft in der Heimat fehlte. Zur Deckung des Bedarfs kamen, neben dem vermehrten Einsatz von Frauen, nur Menschen aus den annektierten Gebieten infrage, die zur Arbeit im Deutschen Reich gezwungen wurden:
„Der ausserordentliche Mangel an männlichen Arbeitern hat dazu gezwungen, Kriegsgefangene, Ausländer und sogar Juden einzusetzen“,
stellte im Frühjahr 1941 der „Kriegsverwaltungsbericht“ des Bezirkes Wilmersdorf (1) fest.
Arbeitskräftebedarf bestand in so ziemlich allen Bereichen der Verwaltung (2): Stadtgärtnerei, Straßenreinigung, Krankenhaus, Wirtschafts- und Ernährungsamt, Friedhof, Gewerbeaufsicht, Gaswerk, Gesundheits- und Finanzamt. Außerdem gab es natürlich ganz erheblichen Bedarf in der Kriegsindustrie, beim Bau und bei der Deutschen Reichsbahn, aber auch in Anwaltskanzleien, Arztpraxen, Handwerksbetrieben, Kirchengemeinden und selbst in privaten Haushalten. Ohne den millionenfachen Einsatz von Zwangsarbeitern wären Wirtschaft und Kriegsführung spätestens 1942 zusammengebrochen.
Anfang 1943 lebten in Groß-Berlin über 250.000 zivile Zwangsarbeiter; das waren etwa 20 % aller dort Beschäftigten. Im Sommer 1944 waren es mehr als 400.000, unter ihnen überdurchschnittlich viele „Westarbeiter“ – aus Frankreich, den Niederlanden und Belgien – vor allem in der Elektroindustrie. Allerdings fand auch in der Reichshauptstadt seit 1942 in rasch wachsendem Umfang der Einsatz von „Ostarbeitern“ – sowjetische Zivilarbeiter und Kriegsgefangene – statt. Der deutschen Bevölkerung begegneten die Zwangsarbeiter überall im Alltag.
Zwangsarbeiterlager in Groß-Berlin
Ein im November 1942 vom Berliner Hauptgesundheitsamt bei den Bezirksgesundheitsämtern angeforderter Bericht über die „ärztliche Versorgung der Zwangsarbeiterlager“ gibt einen detaillierten Überblick über ihre Betreiber und Lage, die Anzahl ihrer Insassen und woher diese stammten. Insgesamt sind für die Zeit um den Jahreswechsel 1942/43 1.011 Lager aufgeführt mit 147.452 zivilen (3) Zwangsarbeitern (was bedeutet, daß die restlichen 100.000 Privatquartiere hatten).
Gemäß diesen amtlichen Unterlagen von November 1942 waren in Charlottenburg 4.500 Zwangsarbeiter in 50 Lagern untergebracht, in Wilmersdorf 6.500 (3a) in 14 Lagern. Die Lagergröße in den beiden Bezirken variierte zwischen 8 und 2.250 Plätzen. Während sich die großen Barackenlager eher am Standrand (z.B. im Grunewald) befanden, waren die innerstädtischen Lager in Festsälen, Hotels, Gaststätten, Wohnhäusern, Fabrikschuppen, Schulen oder Kindergärten untergebracht.
In Charlottenburg (4) betrieben Siemens & Schuckert und Siemens & Halske zusammen 9 Lager mit 2227 Insassen, nutzten also fast die Hälfte der hier festgehaltenen Zwangsarbeiter. Die Durchschnittsgröße der Charlottenburger Lager betrug 90 Personen.
Einige kleinere Lager anderer Unternehmen befanden sich auch im Klausenerplatzviertel:
- Am Bahnhof Westend 3: Deutsche Fernkabel, 10 Insassen, aus verschiedenen Ländern
- Knobelsdorffstraße 16: Universalkugellager, 21, Ukraine/Litauen/Protektorat/Frankreich
- Potsdamer Straße 6 (= Seelingstraße 14): Nökel-Werke GmbH, 10, Holland/Belgien
- Danckelmannstraße 3: Kronschröder AG, 8, Bulgarien/Italien/Frankreich/Ukraine/Slowakei
In Wilmersdorf (5) hatten die Lager eine Durchschnittsgröße von 462 Plätzen, was an den außerordentlich großen Lagern der O. T., des Rüstungsbetriebes Weserflug und der Reichsbahn lag.
Zwangsarbeiterlager des Bezirksamtes in der Wilhelmsaue
Lage Das „städtische Ausländerlager für Arbeitsleistungen im Verwaltungsinteresse“ (6), also das Zwangsarbeiterlager des Bezirksamtes, befand sich in der Wilhelmsaue 40 (7). Es trägt in der Liste die Bezeichnung „Bez.Verw. Wilmsdf.“. Dort waren im November 1942 18 „Arbeiter“ untergebracht. Unter „Nationalität“ ist „versch.“ vermerkt.
Das Grundstück gehörte (bis in die 1960er Jahre) dem Bezirk. Auf dem Gelände befand sich seit mindestens 1931 (8) ein Kinderheim ; mindestens bis Mai 1940 wurden dort eine Laufkrippe und ein Kindergarten betrieben (9), und zwar in einem „einstöckigen, nur zu diesem Zweck erbauten Fachwerkhaus mit großem Hauptraum, in sonniger, freier Lage“ (10).
Gleichzeitig gab es auf dem Gelände auch ein Straßenreinigungsdepot (10a), das zu einem nicht näher bezeichneten Zeitpunkt zwischen 1.9.1939 und 31.3.1941 vom Militär „vorübergehend (Unterbringung von Pferden) in Anspruch genommen“ wurde (11).
Dieser Ausschnitt aus der amtlichen Karte (1:4.000) von 1931 (unverändert bis 1947) (8) zeigt vier Gebäude(komplexe), von denen das größte wohl das Fachwerkhaus des Kinderheims ist. Aufgrund fehlender weiterer Unterlagen im Bauakten- und im Museumsarchiv des Bezirks Charlottenburg-Wilmersdorf und auch im Landesarchiv Berlin läßt sich nicht sagen, welcher Bau als Straßenreinigungsdepot diente. Der folgende Aktenvermerk des Bezirksamtes vom 7.3.1952 (12):
„Über die weitere Verwendung des Grundstücks ist noch nicht entschieden. Die dortigen Baulichkeiten (ehem. Kinderheim) werden vermutlich wegen Baufälligkeit kaum genutzt werden können.“
legt jedoch nahe, daß es eher klein war und das Grundstück in erster Linie vom Kinderheim genutzt wurde. Im November 1937 waren dort 80 Kinder angemeldet (13). Da das Zwangsarbeiterlager nur 18 Personen umfaßte, ist es möglich, daß Kinderheim, Straßenreinigungsdepot und Zwangsarbeiterlager (in einem Nebengebäude des Kinderheims) nebeneinander auf dem Grundstück bestanden.
Zwangsarbeiter in der Wilmersdorfer Verwaltung Den ersten Hinweis darauf enthielt der erwähnte „Kriegsverwaltungsbericht“ von Frühjahr 1941. Es heißt dort (1):
„In der Gartenverwaltung (Stadtgärtnerei) waren vorübergehend 10 polnische Kriegsgefangene tätig; seit dem Ende der Berichtszeit sind dort 10 französische Kriegsgefangene beschäftigt. Im Dezember1940 gelang es, 17 holländische Arbeiter für die Bezirksverwaltung zu beschaffen, und zwar für die Stadtgärtnerei, die Strassenreinigung und das Krankenhaus. Ihre Zahl verringerte sich indessen bald wieder; die Holländer kehrten teilweise von Familienheimfahrten nicht zurück, teilweise suchten sie sich andere Beschäftigungen in Deutschland. Ende März 1941 waren nur noch 3 Holländer tätig. Auch ein Tscheche ist im Wirtschafts- und Ernährungsamt als Schuhmacher beschäftigt. Juden sind auf dem Friedhof Stahnsdorf und in der Strassenreinigung eingesetzt. Ihre Zahl betrug Ende März 1941 noch 29.“
Speziell zur Straßenreinigung führt der Bericht an späterer Stelle (14) noch aus:
„Seit Juli 1940 beschäftigt die Straßenreinigung ständig Juden als Hilfsarbeiter. Die Leistungen der in gesonderten Kolonnen arbeitenden Juden sind nicht hoch anzuschlagen. 50 % der bisher beschäftigten 32 Juden sind bereits wieder ausgeschieden. Von den noch verbliebenen Juden ist aber dauern ein erheblicher Teil arbeitsunfähig. Im Dezember 1940 wurden ebenfalls 6 Holländer eingestellt. Diese sind jedoch sämtlich wieder nach erhaltenem Urlaub entweder in Holland verblieben oder inzwischen dorthin zurückgekehrt. In dem weniger strengen Winter 1940/41 hat die Straßenreinigung in der Zeit vom 25. Januar 1941 bis 8. Februar 1941 mit 50 Kriegsgefangenen gearbeitet.“
Ergebnis Das Bezirksamt Wilmersdorf beschäftigte während des Zweiten Weltkrieges Zwangsarbeiter in den Bereichen Straßenreinigung, Stadtgärtnerei, Krankenhaus, Friedhof Stahnsdorf und Wirtschafts- und Ernährungsamt, und zwar mindestens seit Juli 1940 (14). Es handelte sich um polnische und französische Kriegsgefangene, Holländer, Tschechen und Juden. Die Unterbringung von zivilen Zwangsarbeitern im Lager Wilhelmsaue 39-41 ist für die Zeit zwischen November 1942 (5) und April 1944 (6) belegt; möglicherweise bestand das Lager jedoch schon im Dezember 1940 zur Unterbringung der erwähnten 17 holländischen Arbeiter.
MichaelR
Besonderen Dank an Uta Fröhlich, Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit der Stiftung Topographie des Terrors, für ihren entscheidenden Hinweis. Ebenfalls herzlichen Dank für die Unterstützung durch das Archiv des Museums Charlottenburg-Wilmersdorf und das Landesarchiv Berlin.
Quellen und Literatur
„Ärztliche Versorgung der Ausländerarbeitslager“ [Jahreswechsel 1942/43]: Landesarchiv Berlin C Rep. 375-01-08 Nr. 7818/A 06
„Bezirksbürgermeister des Verwaltungsbezirks Wilmersdorf“, Schreiben vom 30.4.1944: Archiv Museum Charlottenburg-Wilmersdorf 3962-1 (Kopie)
Gräfer, Hans, Die Slaven sollen für uns arbeiten. Zwangsarbeit in Wilmersdorf, in: Wilmersdorfer Bruchstücke, hg. v. Arbeitskreis Geschichte Wilmersdorf, Bd. I, B erlin (Omnis) 1997, S. 125-134 [Stadtbücherei: B 152 Wilmersdorf]
Homfeld, Wolfgang: Zwangs- und Fremdarbeiter in Wilmersdorf, in: Wilmersdorf, hg. v. Arbeitskreis Geschichte Wilmersdorf, Berlin (Metropol) 2003, S. 125ff. [Stadtbücherei: B 152 Wilmersdorf]
„Kindergarten Wilhelmsaue 40“ [1937-1940]: Landesarchiv Berlin A Rep. 039-08 Nr. 222
„Kriegsverwaltungsbericht Wilmersdorf (vom Kriegsbeginn bis 31. März 1941)“: Landesarchiv Berlin A Rep. 039-08 Nr. 14
Pagenstecher, Cord: Lagerlisten und Erinnerungsberichte. Neue Quellen zur Topographie und ärztlichen Betreuung der Berliner Zwangsarbeiterlager, in: Andreas Frewer/Günther Siedbürger (Hg.), Medizin und Zwangsarbeit im Nationalsozialismus. Einsatz und Behandlung von „Ausländern“ im Gesundheitswesen, Ffm./N.Y. (Campus) 2004, S. 91-107
Pagenstecher, Cord/Bernhard Bremberger/Gisela Wenzel, Zwangsarbeit in Berlin. Archivrecherchen, Nachweissuche und Entschädigung; bes. S. 17-19 „Zwangsarbeit im Nationalsozialismus“ und S. 70-71 „Zeitgenössische Quellen“ [Stadtbücherei: B 132 Zwan]
„Wilhelmsaue 39/40“ [1952-1964]: Landesarchiv Berlin B Rep. 209 Nr. 2715
Zwangsarbeit in Berlin 1938-1945, Ausstellung des Arbeitskreises Berliner Regionalmuseen, 2002 [Landesverwaltungsamt, Fehrbelliner Pl. 1, EG, im Gang rechts vom Pförtner]
(1) Bl. 12; siehe auch Bl. 70f.: „Es wird vor allem dafür gesorgt werden, daß der bestehende Mangel an Arbeitskräften durch Beschäftigung geeigneter Kriegsgefangener behoben wird.“
(2) Alle Zahlen und Fakten entstammen den genannten Materialien.
(3) also ohne Gefängnisse, Arbeitserziehungslager und KZs sowie Kriegsgefangenenlager
(3a) Laut „Kriegsverwaltungsbericht“ vom Frühjahr 1941 (Bl. 15) „schwankt (die Anzahl der Lagerinsassen) ständig zwischen 2 und 6000“.
(4) „Ärztliche Versorgung der Ausländerarbeitslager“, Bericht des Gesundheitsamtes Berlin-Charlottenburg
(5) ebd., Bericht des Gesundheitsamtes Berlin-Wilmersdorf vom 30.11.1942.– Weitere Informationen zu den Wilmersdorfer Lagern: s. Hans Gräfer
(6) „Bezirksbürgermeister des Verwaltungsbezirks Wilmersdorf“
(7) Die genaue Bezeichnung des Grundstücks ist in den Akten uneinheitlich; teilweise heißt es 39/40, dann wieder nur 40, schließlich auch gelegentlich 39-41. Tatsächlich handelte es sich um ein einheitliches Grundstück mit der Nummer 39-41.
(8) Auf allen amtlichen Karten von 1931 bis 1943 ist beim Grundstück Wilhelmsaue 39-41 „Kinderheim“ vermerkt.
(9) „Kindergarten Wilhelmsaue 40“, Schreiben Polizeipräsident an Bezirksgesundheitsamt, 6.5.1940 (Bl. o. Zi.)
(10) ebd., Schreiben Bezirksgesundheitsamt an Polizeipräsident, 29.11.1937 (Bl. o. Zi.)
(10a) Zur Berliner Stadtreinigung in der Zeit des Nationalsozialismus siehe S. 1-4
(11) „Kriegsverwaltungsbericht“, Bl. 179f.– Bis zum 31.3.1952 war die BSR dort Mieter („Wilhelmsaue 39/40“, Bl. 3)
(12) „Wilhelmsaue 39/40“, Bl. 4
(13) „Kindergarten Wilhelmsaue 40“, Bl. 19
(14) „Kriegsverwaltungsbericht“, Bl. 76f.
MichaelR - Gastautoren, Geschichte - 20. Januar 2015 - 00:02
Tags: nationalsozialismus/stadtgeschichte/wilhelmsaue/zwangsarbeit
sechs Kommentare
Nr. 4, jn, 28.01.2015 - 00:15 um 70.gedenktag der befreiung von auschwitz (27.1.) http://de.wikipedia.org/wiki/Dokumentati.. http://www.zwangsarbeit-in-berlin.de/ http://de.wikipedia.org/wiki/NS-Zwangsar.. |
Nr. 6, maho, 13.05.2015 - 20:58 Das Bezirksamt reagiert endlich. Pressemitteilung vom 13.05.2015: “... Zeitzeugen gesucht Entsprechend einem im November 1942 vom Berliner Hauptgesundheitsamt bei den Bezirksgesundheitsämtern angeforderten Bericht über die ärztliche Versorgung der Zwangsarbeiter waren in Charlottenburg 4.500 Zwangsarbeiter in 50 Lagern untergebracht, in Wilmersdorf 6.500 in 14 Lagern. Die Lager hatten zwischen 8 und 2.250 Plätze. Auch das Bezirksamt Wilmersdorf unterhielt ein Zwangsarbeiterlager. In dem „städtischen Ausländerlager für Arbeitsleistungen im Verwaltungsinteresse“ in der Wilhelmsaue 40 waren im November 1942 18 Zwangsarbeiter untergebracht. Wenn Sie zu diesem Lager oder einem der anderen Informationen haben, wenden Sie sich bitte an die Pressestelle des Bezirks Charlottenburg-Wilmersdorf, Tel 9029-12203 oder E-Mail: presse@charlottenburg-wilmersdorf.de. ....” http://www.berlin.de/ba-charlottenburg-w.. |
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...und wieder ein aufschluß- und kenntnisreicher Beitrag von MichaelR. Danke!