Leseempfehlung (16): Goethe zieht in den Krieg
Unter den vielen Goethe-Biographien zu seinem 250. Geburtstag im Jahr 1999 war auch diese von Dieter Kühn, die sich im Untertitel ausdrücklich „eine biographische Skizze“ nennt. Denn tatsächlich kommt der fiktive Verfasser des Jahres 1867 nie weiter, als seinem Verleger vorzustellen und zu erläutern, was er sich vorgenommen hat: über seinen Großvater in der Zeit des Feldzuges nach Frankreich im Jahr 1792 zu schreiben, den dieser dann zwischen 1819 und 1822 literarisch in seiner autobiographischen Schrift „Campagne in Frankreich“ verarbeitete.
Der fiktive Autor ist Goethes jüngerer Enkel und Nachlaßverwalter Wolfgang Maximilian. Im Laufe seiner Korrespondenz mit dem Verleger wird sein Plan immer verzweigter und berührt immer mehr Aspekte, um Goethes „Vielfalt und Vielseitigkeit“ (259) erkennbar zu machen – Goethe und die Französische Revolution, Goethe als Leiter des Weimarer Militär-Departements, Goethe und seine Erfahrungen mit Krieg, Goethe im Alter (bei der Abfassung des erwähnten Textes hatte er bereits die 70 überschritten), Goethe und seine Familie und vieles mehr. Dies macht es für den Enkel notwendig, immer mehr Helfer heranzuziehen – darunter seinen Bruder Walter, Goethes letzten Sekretär, Fachleute für Botanik und für das Militärwesen –, deren Äußerungen ebenfalls in die Skizze einfließen.
Auf der Suche nach authentischen Informationen läßt Dieter Kühn den Enkel Goethes damalige Route bis Valmy nachreisen (und ihn denselben wochenlangen Dauerregen erleben wie der Großvater ihn erlebt hatte). Allerdings kann sich der Enkel in seiner ausufernden Buchskizze mangels Belegen nicht immer an Fakten halten, denkt sich zum Beispiel Gesprächsverläufe aus – seinem Verleger gegenüber kennzeichnet er dieses Schreibverfahren so: „Da ist Überliefertes, das silbengetreu wiedergegeben wird, da ist Fingiertes im Spielraum des Wahrscheinlichen.“ (67) – Rekonstruktion mit Freiräumen, wobei er für den Verleger die unterschiedlichen Anteile markiert.
Anders der Großvater, dessen eigener Kriegsbericht sich bei genauerem Hinsehen und Vergleichen nur als bedingt an den Fakten orientiert erweist, allerdings ohne Hinweise an den Leser. Persönliche Neigungen und Interessen, politische Ansichten und Rücksicht auf seinen Landesherrn, den er begleitete, wirkten sich auf seine Darstellung aus – und auch der Wunsch, mit seiner Autobiographie das Bild der Nachwelt von sich mit zu formen. So ist das berühmte Goethe-Wort „Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen“ offenbar eine erfundene Zutat, mit der sich Goethe 30 Jahre post festum als weitsichtiger Seher in die Zukunft ausweisen wollte.
Die Rekonstruktion (des Lebens) Goethes – in der Verbindung von Quellenmaterial und fiktiven Szenen – schafft ein facettenreiches Bild von ihm und seinen Lebensumständen. Allerdings rücken im Laufe der Skizze die Biographien der „beiden beschädigten Enkel“ (202) und ihres Vaters – „so sehr bemüht, es seinem übergroßen Vater recht zu machen“ (263) – zunehmend in den Mittelpunkt, bis hin zur Fantasie einer zerstörerischen, gegen Großvater Goethe gerichteten nachträglichen Rebellion. Aus einer ausgefeilten Biographie wird nichts; was dem Leser bleibt, ist eine lesenswerte Biographie in Form von Briefen, Notizen und Gesprächen.
Dieter Kühn wurde 1935 geboren. Er schuf ein umfangreiches Werk aus Romanen, Hörspielen und Biographien, für das er mehrere Preise erhielt (1975 Hörspielpreis der Kriegsblinden, 1977 Hermann-Hesse-Preis, 2014 Carl-Zuckmayer-Medaille). Er starb im Juli dieses Jahres.
Dieter Kühn (1935-2015), Goethe zieht in den Krieg. Eine biographische Skizze, Frankfurt/M. (S. Fischer) 1999, 283 S. [Stadtbücherei: Aktuelle Romane Roman Kueh]
MichaelR
Siehe auch „Goethes letzte Reise“ von Sigrid Damm [Stadtbücherei: Lit 236.5 Damm]
Michael R. - Gastautoren, Kunst und Kultur - 10. September 2015 - 00:02
Tags: biographie/buch/goethe/rezension
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