Zwangsarbeiter – mit den Augen eines Kindes gesehen
An diesem Auszug aus Helmut Meyers Kindheitserinnerungen aus dem Viertel um den Mierendorffplatz läßt sich anschaulich ablesen, wie selbst ein Neunjähriger die im Stadtbild von Groß-Berlin allgegenwärtigen Zwangsarbeiter erlebte. Abdruck des Textes mit freundlicher Genehmigung des Verfassers.
Lagen in der ersten Zeit die Zerstörungen noch in Moabit, so rückten die Bombeneinschläge immer näher und trafen ab 1944 auch die Häuser in der Kamminer Straße. In meiner Erinnerung ist noch, wie das Haus Kamminer Straße 9 im September 1944 bei einem Tagesangriff getroffen wurde. Brandbomben hatten das Dach durchschlagen, es brannte. Die Feuerwehr war bei den Angriffen und Bränden nicht mehr in der Lage, die Brände zu bekämpfen, und Löschwasser war durch Bombentreffer im Leitungsnetz kaum oder nicht vorhanden. Die Frauen, Kinder und Rentner mussten so mit ansehen, wie ihr Haus wie eine Kerze abbrannte. Alle versuchten verzweifelt etwas aus ihren Wohnungen auf die Straße zu retten. Die größeren Mitgliedern unserer Clique halfen bei dieser Bergung aus dem brennenden Haus, darunter oft auch unsinnige Sachen, die in der Panik gegriffen wurden.
Schule war ab Oktober 1944 nur noch einmal in der Woche. Regulären Unterricht gab es nicht mehr. Es wurden nur Hausaufgaben verteilt. Das hatte einen zwingenden Grund, denn die Schulen waren zweckentfremdet. In den Schulen am Gustav-Adolf-Platz (jetzt Mierendorffplatz) waren „Ostarbeiter“ und in der heutigen Gottfried-Keller-Oberschule in der Kamminer Straße waren Zwangsarbeiter der Berliner Rüstungsbetriebe aus Holland, Belgien und Frankreich untergebracht worden. Zudem wollte die Schule bei den häufigen Bombenangriffen keine Verantwortung für die Kinder tragen.
Zeichnung: Helmut Meyer (2014)
Wenn ich an diese Zeit zum Ende Jahres 1944 denke, fällt mir Harry Gabriel ein. Harry, damals vierzehn Jahre, der Sohn eines ambulanten Gemüsehändlers, galt als Führungsperson für uns, er war der „Schrecken der Straße“. Er war der Anführer unserer Clique. Er wohnte mit seiner Mutter mit in unserem Haus in der Kamminer Straße. Ich hatte sein Wohlwollen und als Jüngerer auch seinen Schutz. Vielleicht hatte er die Geschichten vom Stülpner Karl oder Robin Hood gelesen, jedenfalls hat mich beeindruckt, dass dieser Rabauke, als er die begehrlichen Blicke der Ostarbeiter auf Schröders Möhren und Kohlrüben in den Kisten vor dem Gemüseladen sah, einfach das Gemüse nahm und es den Arbeitern gab. Dem aufgebrachten Schröder sagte er: „Seien Sie ruhig. Das bezahlen meine Eltern.“
In den letzten Kriegstagen im April 1945 wurde Harry zum Volkssturm eingezogen. Mit Benno Lasker, ebenfalls aus unserem Haus, ist er als 15-jähriger Hitlerjunge am Johannesstift in Spandau umgekommen. Vor ihrem Einsatz haben sie noch einmal in ihren schwarzen HJ-Winteruniformen mit Patronentaschen am Koppel und mit Karabiner ihre Mütter und uns besucht.
Meine Schule am Gustav-Adolf-Platz (Mierendorffplatz), war zu dieser Unterkunft für die sogenannten Ostarbeiter umfunktioniert worden. Junge Leute aus Russland, der Ukraine und Weißrussland waren aufgegriffen worden und nach Deutschland verfrachtet, um bei Siemens in Spandau und bei der AEG in Moabit zu schuften, sie kampierten in den Schulen. Sie mussten die fehlenden Arbeiter, die an der Front waren, ersetzen. Die Zwangsarbeiter trugen an der Kleidung ein aufgenähtes blaues Quadrat, darüber die Buchstaben OST. Ihre Kleidung war zerschlissen, Frauen und Mädchen trugen Kopftücher, die Männer Schiebermützen. Jeder von ihnen trug eine Umhängetasche mit sich, die meist aus Jutesäcken gefertigt war. Von dem jämmerlichen Essen, das sie bekamen, total ausgehungert, versuchten sie, zu etwas Geld zu kommen, um sich beim Gemüsehändler Schröder in der Kamminer Straße 35 oder an anderer Stelle ein paar Kohlrüben und anderes „markenfreies“ Gemüse oder Obst kaufen zu können. Sie suchten auf der Straße nach Zigarettenkippen, um sich daraus dann ihre Zigaretten zu drehen. „Kippensucher“, wie es dann nach dem Kriege auch die Berliner Raucher wurden.
Aus Holzresten schnitzten sie sonntags, wenn sie frei hatten, Autos und Flugzeuge und auch diese runden Bretter mit den pickenden Hühnern, die ich dann viel später in Moskauer Spielzeugläden wieder gesehen habe. Sie trugen meist viel zu große Sachen. Wegen ihrer Spielzeugproduktion wurden sie für uns interessant.
Die Straßenbahnen Linie 3 und 55 der BVG hatten in dieser Zeit am zweiten Wagen oder am hinteren Perron die Aufschrift „Nur für Fremdarbeiter!“ und transportierten so die Zwangsarbeiter zu ihrer Arbeit. Die Straßenbahnen waren durch die Bombenangriffe nahezu fast alle ohne Scheiben, die Fensteröffnungen stattdessen mit Hartfaserpappen verschlossen. In den Wagen brannten auch am Tage die blauen Verdunkelungslampen.
Die meisten Ostarbeiter waren nicht viel älter als die Großen aus unserer Straßenclique. Wir empfanden Mitleid mit ihnen. Im Dezember 1944 luden sie uns sogar zu ihrer Weihnachtsfeier ein. Sie wohnten, soweit man es so bezeichnen konnte, in unseren Klassenräumen, deren Fenster nun infolge der Bombenschäden auch kein Glas mehr hatten und mit Pappe vernagelt waren. Sie hatten für uns ein musikalisches Programm vorbereitet, sie sangen ihre Lieder, boten uns Tee an und „Kascha“, Buchweizengrütze, die wir auch probieren mussten. Die Älteren unserer Clique wurden nach dem Besuch dieser Feier von den Führern der Hitlerjugend verwarnt und belehrt, dass so etwas verboten wäre. Auch Zwangsarbeiter aus den besetzten Ländern Belgien und Holland waren in der Gottfried-Keller-Oberschule in der Kamminer Straße einquartiert. Sie waren durch die Kontrolle des Internationalen Roten Kreuzes über ihr Leben nicht so großer Willkür ausgesetzt wie die völlig versklavten Ostarbeiter.
Gefangene Italiener, die zu den Truppen des Generals Badoglio gehört hatten, der gegen Kriegsende gegen den faschistischen Diktator Mussolini geputscht und diesen abgesetzt und eingesperrt hatte, lebten nun als Gefangene, bewacht hinter Stacheldraht, in Baracken. Die hatte man in der Parkanlage am Tegeler Weg errichtet. Nachdem Mussolini dann in einer spektakulären Aktion von einer Truppe des SS-Offiziers Skorzeni wieder befreit worden war, wurden die Truppenteile, die loyal zu Badoglio gestanden hatten, zu Kriegsgefangenen erklärt. So kamen Fremdarbeiter aus dem ehemals mit Hitlerdeutschland verbündeten Italien nach Charlottenburg und gehören bis heute zu meinen Kindheitserinnerungen. Die Italiener waren bei uns Kindern als Tauschpartner beliebt, denn sie hatten begehrenswerte Tauschobjekte zu bieten: Sie trennten sich von ihren Metallsternen an den Uniformen, die wir uns dann selbst ansteckten. Hunger ist stärker als militärischer Ehrgeiz. Die Italiener wurden nach den Bombenangriffen zur Bergung von in den Kellern verschütteten Bewohnern der Häuser und zum Wegräumen der Trümmer von den Fahrbahnen der Straßen eingesetzt.
Schon in einer Kinderclique wirken die Gesetze der Gruppendynamik: die Horde fühlt sich stark und überlegen. Wenn sich Italiener auf der Straße zeigten, wurde ein dümmlicher Vers gegrölt, der die Landung der Amerikaner in Italien zum Hintergrund hatte:
Wir sind die tapf‘ren Italiener
Unser Land wird immer kleener.
Sizilien hamse uns genommen.
Nach Rom wernse ooch bald kommen.
Ich kann heute nicht ausschließen, dass ich als Neunjähriger in diesem Brüllchor mitgetönt habe.
In den Wirren der Monate März und April 1945 – es war ab Anfang April ein pausenloser Alarmzustand in der Stadt mit Beschuss und russischen Tieffliegern – verliert sich dann die Spur der Fremdarbeiter und der gefangenen Italiener.
Helmut Meyer
Helmut Meyer, Kamminer Straße, Erinnerungen an die Kindheit in Berlin-Charlottenburg, mit zahlreichen farbigen Illustrationen des Autors und Schwarz-Weiß-Fotos, Berlin (Mexer-Verlag) 2. Aufl. 2015, S. 24-29. Das Buch kann zum Preis von 9,50 € (einschl. Porto) bestellt werden bei helmutmeyer-berlin@t-online.de.
Helmut Meyer - Gastautoren, Geschichte - 15. Dezember 2015 - 00:24
Tags: nationalsozialismus/zwangsarbeit
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