Leseempfehlung (15): Kindheit unterm Hakenkreuz
Helmut Meyer kann auf ein bewegtes Leben zurückblicken: Drittes Reich, Zweiter Weltkrieg, Westberlin, Ostberlin, schließlich BRD. Er war schon früh künstlerisch aktiv und ist es immer noch – siehe seine Ausstellung im September 2011 in der Taverna Karagiosis am Klausenerplatz. Und er hat, ebenfalls schon früh, am Beispiel seines Vaters erlebt, was es bedeutete, Gegner des Nationalsozialismus zu sein. 2011, als sein Vater zusammen mit weiteren 70 Charlottenburgern für seinen Widerstand geehrt wurde, hatte er uns von ihm erzählt.
Helmut Meyer verbrachte seine ersten vierzehn Lebensjahre in der Kamminer Straße, in dem Viertel, das heute nach einem Platz benannt wird, der damals nach Gustav Adolf hieß und seit 1950 den Namen des Widerstandskämpfers Carlo Mierendorff trägt. Sehr plastisch und voller Details schildert er das Leben dort vor 75 Jahren: Wie die Straße der Spielplatz für die Kinder war, wo sie den größten Teil des Tages verbrachten: das Pflaster diente als Malgrund, die Ladenschwellen als Sitzplätze, die Gaslaternen als Ausguck. In der ganzen Straße gab es nur drei Autos, dafür jede Menge Fuhrwerke: die der Müllkutscher, der Brauereien, des Eismannes und der Meierei Bolle. Außerdem traf man dort Lumpen- und Kartoffelschalensammler, Leierkastenmänner und Moritatensänger.
Mit zunehmendem Alter dehnte sich sein Aktionsradius aus bis hin zur
Berliner Straße (jetzt Otto-Suhr-Allee) und zum Schloßpark. Gleichzeitig
traten auch die Nationalsozialisten immer mehr in sein Blickfeld:
SA-Männer trieben Bürger in Anzügen zum Straßenfegen vor sich her;
Eintopfsonntag vor dem Rathaus Charlottenburg; Sammlungen fürs
Winterhilfswerk und die NS-Frauenschaft. Und ebenso in der Schule, in
die er 1941 kam: Siegesfeiern als Bestandteil des Unterrichts und
Berichte von hochdekorierten Soldaten über ihre Heldentaten.
Aber mit fortschreitendem Krieg änderte sich das Bild immer mehr. Er
wurde zum „Schlüsselkind“, weil seine Mutter zwangsverpflichtet war und
damit den ganzen Tag abwesend (und der Vater in der Strafkompanie 999).
Später fiel der Unterricht zunehmend aus, weil das Schulgebäude für die
Unterbringung von Zwangsarbeitern benutzt wurde.
Und auch der Tod griff um sich in seiner Straßenclique: Willy starb gleich zu Kriegsbeginn mit 19 Jahren in Polen; Harry, „der Schrecken der Straße“, und Benno mußten mit 15 Jahren zum Volkssturm und starben in Spandau bei der Verteidigung der Havelbrücken. Ganz zu schweigen von den Toten, die sie nach Kriegsende in den Flakständen in der Jungfernheide und im Schloßpark fanden.
Helmut Meyer schrieb diesen lebendigen und reich bebilderten Bericht
über seine „Kindheit unterm Hakenkreuz“ für seine Enkel und Freunde, um
für sie festzuhalten, was es für Folgen hat, wenn ein Volk in großen
Teilen einer verbrecherischen Ideologie „gefolgstreu“ anhängt. Das Buch
ist zum Selbstkostenpreis erhältlich. (Kontakt: per Mail über
das Kiez-Web-Team.)
MichaelR
Helmut Meyer, Alle haben nichts gewusst! Kindheit unterm Hakenkreuz, Berlin 2010, 108 S., viele Abb.
MichaelR - Gastautoren, Geschichte - 11. August 2014 - 00:02
Tags: gedenken/gedenktafel/kindheit/kriegsende/nationalsozialismus
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