Straßen und Plätze: Bleibtreustraße
In Erinnerung an G. und H. G.
Bis in die ersten Monate des Jahres 1933 hinein konnten zwei Mädchen aus ihrem Kinderzimmer am Südende der Straße direkt gegenüber ins Wohnzimmer des Hellsehers Erik Jan Hanussen schauen, der sich in dem Eckhaus Lietzenburger Straße 16 (jetzt: 100) und Bleibtreustraße 28 einen „Palast des Okkultismus“ eingerichtet hatte. Dann wurde er Ende März von der SA verschleppt und ermordet. „Offenbar wusste der Hellseher zu viel über die Vorgänge hinter den Kulissen der SA, hatte sich zudem ausgerechnet als Jude bei Hitlers Schergen einzuschmeicheln versucht. Dass man zugleich einen Gläubiger los wurde, kam den Mördern sicher gelegen.“
Am anderen Ende der Straße, auf Nr. 2, gleich neben der Jazzkneipe A-Trane, liegt das einzige unbebaute Grundstück der Straße. Dort befand sich ein Wohnhaus, in dessen Keller 1926/27 ein jüdisches Tauchbad zur rituellen Reinigung eingerichtet worden war. Ab 1939 wurde das Gebäude als „Judenhaus” genutzt, um dort Menschen zwangsweise einzuquartieren, bevor sie im Konzentrationslager landeten und ermordet wurden. Heutzutage ist dort ein Spielplatz. Die umfangreichen Informationstafeln an der linken Wand wurden Ende 2015 entfernt, nachdem sie wiederholt beschädigt worden waren.
Zwischen diesen beiden Polen – die durch Kurfürstendamm beziehungsweise Kantstraße vom Mittelteil der Straße abgeschnitten sind – spannt sich die seit August 1897 nach dem Schlachtenmaler Georg Bleibtreu (Xanten 1828 - Knesebeckstraße 1892) benannte Straße. Bleibtreu war seit 1869 Mitglied der Preußischen Akademie der Künste und wirkte mit an der Gestaltung der von 1891 bis 1945 bestehenden Ruhmeshalle im Berliner Zeughaus.
(Auenkirche Wilmersdorf)
Den 500m langen Mittelteil der Bleibtreustraße beschreibt „ihr internetguide für die city-west“ in einer dem Anliegen angemessenen Sprache: „Authentizität, Individualität, Kreativität, Vitalität Die Bleibtreustraße ist die lebendige Traditionsstraße in der Berliner City mit dem persönlichen und originellen Kiezflair, die Berlinern und Touristen ein vielseitiges und einzigartiges Einkaufs- und Verweilerlebnis bietet.“ Das war nicht immer so, besonders was das Verweilen betrifft. Denn am 27. Juni 1970 trug sich dort „die erste Straßenschlacht mit Schußwaffen nach dem Krieg in West-Berlin“ zu: Eine deutsche Zuhälterbande überfiel eine iranische unter Zuhilfenahme von Revolvern und Maschinenpistolen. Daraufhin soll die Straße über längere Zeit im Volksmund als „Bleistreustraße“ bekannt gewesen sein. Im Vergleich damit leben wir heute doch in einer weltoffeneren Zeit, in der ein Gastronom den Namen seines Lokals angebotsorientiert in „Reste Fidèle“ französisiert hat.
Auseinandersetzungen kleinerer Art gibt es trotzdem noch in der Bleibtreustraße, zum Beispiel die zwischen den Freunden des Gaslichts und den Elektrolichtliebhabern. Die Elektrofreunde sind deutlich in der Vorhand, seitdem sie mit ihrem „Lichtkonzept Stadtbahnbrücken City West“ im Rahmen eines aufwendigen Wettbewerbs mit „persönlich verantwortlichen“ Preisrichtern (S. 8) und in mehreren „Wertungsrundgängen“ die schlichte Tatsache korrigierten, daß es unter einigen Bahnunterführungen einfach zu dunkel ist, und ihre Bemühungen mit einer feierlichen Inbetriebnahme der „Künstlerischen Illumination“ einschließlich persönlichem Grußwort des damaligen Stadtentwicklungssenators und Stromförderers M. Müller krönten. Da haben die Freunde der Gaslaternen einen schlechten Stand, auch wenn sie mit dem Hinweis auf ihren Umsatz für den Erhalt der Straßengasbeleuchtung (die schon fast ganz beseitigte Reihenleuchte!) vor Ort plädieren – und sich dazu an eben diesen Senator (und jetzt Oberbürgermeister) wenden müssen.
Zum Schluß noch ein Blick auf die Kultur: Da ist vor allem das Kino „Filmkunst 66“ zu nennen, bekannt für sein anspruchsvolles Programm. Bis 1993 lag es noch an der Ecke zur Niebuhrstraße und hatte sein besonderes Flair; nach dem lukrativen Verkauf des Grundstückes befindet es sich jetzt einige Meter weiter hinter einer Allerweltsfassade. Gleich daneben, an Nr. 10/11, ist eine Gedenktafel für die Dichterin Mascha Kaléko (1907-1975) angebracht, die dort 1936 bis 1938 wohnte, bevor sie in die USA emigrieren mußte. Kurz vor ihrem Tod schrieb sie in ihrem letzten Gedicht mit dem Titel „Bleibtreu heißt die Straße“:
Hier war mein Glück zu Hause. Und meine Not.
Hier kam mein Kind zur Welt. Und mußte fort.
Hier besuchten mich meine Freunde
Und die Gestapo.
Wenn man heutzutage durch diese Straße geht, wie auch durch viele andere, und die wenigen alten Fassaden sieht und demgegenüber all die glatten Neubauten, hier besonders gehäuft an den Schnittstellen mit Kurfürstendamm und Kantstraße, kann man sich vorstellen, daß die Dichterin ihre Straße kaum wiedererkannt hätte – genausowenig wie die beiden Mädchen am anderen Ende: dauerhafte Folge eines Krieges, der von hier ausging und schließlich hierher zurückkam.
MichaelR
Materialien (soweit nicht verlinkt):
Bezirkslexikon: Bleibtreustraße 2, Bleibtreustraße 10/11
Kauperts: Bleibtreustraße
Wikipedia: Bleibtreustraße, Georg Bleibtreu, Mascha Kaléko
MichaelR - Gastautoren, Geschichte - 05. März 2016 - 19:32
Tags: gaslaterne/kino/kriminalität/literatur/nationalsozialismus/plätze/straßen
vier Kommentare
Nr. 2, jn, 05.03.2016 - 23:25 “Zum Schluß noch ein Blick auf die Kultur: Da ist vor allem das Kino „Filmkunst 66“ zu nennen, bekannt für sein anspruchsvolles Programm. Bis 1993 lag es noch an der Ecke zur Niebuhrstraße und hatte sein besonderes Flair” Hier der verweis auf ein anderen – ehemals verschwundenem kulturort in charlottenburg,nun wiederauferstanden:dem KlICK in der windscheidstr. https://www.berlin.de/ba-charlottenburg-wilmersdorf/ueber-den-bezirk/kultur-und-wissenschaft/kinos/artikel.157862.php http://www.tagesspiegel.de/berlin/bezirk.. |
Nr. 3, M.R., 06.03.2016 - 15:22 Zur "Künstlerischen Illumination" unter der Brücke und dem Leuchtkampf zwischen Gas- und E-Licht siehe auch: Der Zündfunke, November 2014 (Heft 55), S. 15: http://www.progaslight.org/ZF/PGL_Zuendf.. |
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Der Bund der Steuerzahler kritisierte übrigens erneut die Kosten für diese “Künstlerische Illumination”
“Ob es teuer wird oder nicht, sagt Euch gleich das Licht”
https://www.rbb-online.de/politik/beitrag/2016/01/erneute-kostensteigerung-bei-lichtinstallation-an-bruecken.html