Eine fremde Kultur in der Deutschen Oper
Reise in ein Land, wo Töne der kostbarste Rohstoff sind.Es herrscht die reine Willkür. Zum Schluß stellt sich dennoch heraus, daß alles seine rechtliche Ordnung hat.
Die Besucher des jüngsten Musiktheaterprojektes der Deutschen Oper - „Neuland“ - stehen erst einmal vor der Tür und dürfen zweifeln, ob sie überhaupt hereingelassen werden. Sie wissen nicht, ob sie willkommen oder gar unerwünscht sind oder nur geduldet werden. Unter ihnen sind zahlreiche auffällig gekleidete Personen. Es kann sein, daß die Deutsche Oper mit diesem Projekt besonders schrullige Modenarren anzieht oder aber ihre Darsteller schon vor der Oper unters Publikum mischt.
Die beiden Regisseure Martin G. Berger und Jonas Egloff steigen auf den Tresen der Garderobe, um die Besucher vor den fremden kulturellen Gegebenheiten in Blomagal, wie jenes Neuland heißt, daß sie gleich in der früheren Tischlerei der Oper betreten werden, zu warnen und ihnen zu raten, sich möglichst rasch anzupassen. Pärchenbildung ist beispielsweise in Blomagal ungeheurer obszön, denn hier geht man Dreierverbindungen ein. Wer das Glück hat, nicht gleich unvorbereitet in diese neue Welt gestoßen zu werden, erhält möglicherweise vorher einen kurzen Integrationskurs, wo er zumindest die sechs wichtigsten Worte des fremden Landes lernt: „Ja“, „nein“, „danke“, „bitte“, „Entschuldigung“ und „Scheiße“.
Vokabeln in der neuen Heimat vertraut gemacht.
Foto: Wecker
Seit Februar haben Berliner Jugendliche gemeinsam mit gleichaltrigen Flüchtlingen an der Inszenierung gearbeitet. In ihr schlägt sich unmittelbar Erfahrenes nieder, von der existentiellen Bedrohung des Lebens bis zur freimütigen Kommunikation. Nicht alle, die am Anfang mitgewirkt haben, können das Projekt auch zu Ende führen, denn auch in die Probenzeit wirkte willkürlich der staatliche Arm hinein von der Abschiebung bis zur schlagartigen Umsiedlung in andere Städte und Regionen. Etliche beeindruckende Szenen zeigen Demonstrationen, deren Debatte die Zuschauer ebenso wenig verstehen wie viele der Teilnehmer. Die Jugendlichen zeigen das Entsetzen, wenn vom Himmel Bomben fallen. Sie prasseln auf Menschen nieder, die sich nur fragen, warum gerade sie dieser Willkür ausgesetzt sind. Die Betroffenen wissen wie die Zuschauer nicht, worum es in dem Krieg eigentlich geht. Bei einer Opernaufführung in Blomagal wird einmal der Frevel eines der Neuankömmlinge verhandelt, der ein Erinnerungsstück aus seiner Heimat mitgenommen hat, dessen Rot nicht ganz der Auffassung von der Farbe Rot in Blomagal entspricht. Als er auf die Einfuhr verzichtet, wird er integrationsfähig, was ausgiebig gefeiert wird.
Der Reichtum von Neuland ist der Klang. Er ist ein Rohstoff, um den alle Neuankömmlinge das Land bereichern, denn jeder bringt einen eigenen individuellen Klang mit. Am Staatsfeiertag darf sich jeder mit seinem Klang vorstellen.
doch nicht alle Bürger verstehen, worum es eigentlich geht.
Foto: Wecker
Diese aus unmittelbarem Erleben künstlerisch brillant verdichteten Lebenserfahrungen geschaffene Aufführung ist ein Laboratorium der sozialen Phantasie. Leider ist es nur dreimal zu erleben: am 16. April zur Premiere und danach nur noch am 17. und 19. April jeweils um 20 Uhr.
Wegen dringender Reparaturarbeiten in der Deutschen Oper müssen einige Proben in die Tischlerei verlegt werden, so daß in der nächsten Saison dort das Angebot etwas zurückgenommen werden muß. Dennoch werden hier weiter neue Wege des Musiktheaters beschritten werden, die auch mit kleinen Produktionen unterstreichen, daß die Deutsche Oper zu den führenden Musiktheatern der Welt gehört. Gespannt dürfen die Besucher auf die Veranstaltungsreihe „Aus dem Hinterhalt“ sein, wo Popkünstler, Rapper, Dichter nach Herzenslust über die gleichzeitig im Vorderhaus laufenden großen Opernproduktionen herziehen dürfen.
FW
FW - Gastautoren, Kunst und Kultur - 14. April 2016 - 23:27
Tags: musiktheater/oper/theater
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Der rbb berichtete live von der Premiere:
https://www.rbb-online.de/abendschau/archiv/20160416_1930/neuland-live-premiere.html
https://www.rbb-online.de/rbbaktuell/archiv/20160416_2150/neuland-premiere.html