Straßen und Plätze: Wilhelmsaue 10 – Brigitte Grothum erinnert sich an die Schauspielschule Marlise Ludwig
Schräg gegenüber vom Schoelerschlößchen liegt das Grundstück Nr. 10. Es war Ende des 19. Jahrhunderts im Besitz einer Büdnerin aus der Familie Mehlitz. 1908 verkaufte sie es an den Architekten Arthur Fuchs, der dort nach eigenen Plänen ein fünfgeschossiges Mietshaus errichtete. Das Datum und seinen Namen ließ er an der rechten Kante des Gebäudes auf Augenhöhe der Passanten in zehn Zentimeter hohen Majuskeln in Schreibschrift einmeißeln. Über hundert Jahre später ist nach all den Neuanstrichen der Fassade sein Name nur noch schwer zu entziffern.
Der Eingangsbereich des Hauses ist wesentlich aufwendiger gestaltet als bei den umliegenden Altbauten – von den Neubauten einmal ganz zu schweigen: Eine Loggia oder Laube bildet den Übergang zwischen Straße und Hausinnern. Sie wird an der Außenseite von einem eleganten Korbbogen umrahmt und faßt unter einem Kreuzgewölbe den fünfstufigen Aufgang zur Haustür und den Abgang zum Keller zusammen. Die die beiden Treppen trennende Wand zeigt an ihrer Stirnseite ein antikisierendes Relief, auf dem eine spärlich bekleidete Frauengestalt eine Schale reicht: ein Willkommensgruß an den Fremden, der das Haus betreten will? Auch hier sind aufgrund des dicken Farbauftrags Details nicht mehr zu erkennen. Auf dem Podest am oberen Ende des Aufgangs steht neben der Haustür eine Bank, die einen wetter- und sichtgeschützten Aufenthalt im Freien erlaubt. Den Kellerabgang sichert ein Türchen im Jugendstil (in der nichtvegetabilen Form).
Schauspielschule Marlise Ludwig
Im vierten Obergeschoß befand sich mindestens seit 1950 bis zu ihrem Tod im Jahre 1982 die private Schauspielschule von Marlise Ludwig.
Marlise Ludwig (geb. 1886) war ursprünglich Theater- und Filmschauspielerin. In den 30er und 40er Jahren trat sie wiederholt an der Volksbühne auf, nach Kriegsende auch im Schloßparktheater in Steglitz. Zu den Filmen, an denen sie in einer Nebenrolle mitwirkte, gehören „Großstadtmelodie“ (1943, Regie Wolfgang Liebeneiner) und „Die Mörder sind unter uns“ (1946, Regie Wolfgang Staudte).
Vor allem ist Marlise Ludwig jedoch bekannt durch ihre Schauspielschule. In den Biographien vieler Schauspieler ist der Besuch ihrer Schule erwähnt. Unter ihren Schülern in der Wilhelmsaue waren – um einige besonders prominente zu nennen – Karin Baal, Horst Buchholz (1950), Cornelia Froboes (1959-1961), Wolfgang Gruner, Harald Juhnke (1948), Dieter Hallervorden und Vera Tschechowa.
Erinnerungen von Nachbarn
Allerdings findet man in diesen Kurzbiographien keine Informationen über Ausbildung, Begleitumstände und Örtlichkeit. Und wie es in einer Großstadt üblich ist, haben selbst unmittelbare Nachbarn nur wenig von der Schauspielschule bemerkt. Einer erinnert sich allerdings, wie in den 50er Jahren unter den Kindern ein vor Nr.10 geparkter weißer Mercedes 190 Zweisitzer in der ansonsten fast autoleeren Straße stets großes Aufsehen erregte. Und eine Nachbarin berichtet, daß Ende der 70er Jahre ein junger Aushilfsbriefträger von gellenden Schreien erzählte, als ob dort jemand ermordet würde, bis ihm alles klar wurde, als er das Firmenschild an der Hausfront sah. Einer weiteren Nachbarin schließlich fallen Geburtstagsfeiern, an denen immer ehemalige Schauspielschüler teilnahmen, zum Beispiel Edith Hancke und Wolfgang Gruner.
Brigitte Grothum
Gut erinnern kann sich jedoch eine der Schülerinnen von Marlise Ludwig: Brigitte Grothum. Sie war 1950 nach Westberlin gekommen und hatte damals das Ziel, Pianistin zu werden. Als sie sich aber noch vor dem Abitur einen Finger brach, war es mit diesem Berufswunsch aus. Die Aufführung einer Oper von Mozart brachte sie auf die Idee, stattdessen Schauspielerin zu werden. So begann sie 1953 ihre zweijährige Ausbildung im Schauspielstudio von Marlise Ludwig.
„Marlise Ludwig legte größten Wert auf Pünktlichkeit. Wer zu spät kam, durfte nicht teilnehmen und mußte ab in die Küche zu Anna Sailer, dem Faktotum. Überhaupt war ihr Disziplin sehr wichtig. Bei den Proben durfte keiner einen Mucks machen, wenn wir alle in dem einen Zimmer saßen und durch die Schiebetür denen zuhörten, die gerade im Nebenraum dran waren – dem ‚Studio‘, eigentlich eine Art Wohnzimmer mit wertvollen Möbeln, die mit weißen Decken abgehängt waren. Übrigens mußten auch die Stichwortgeber ihren Text auswendig lernen; aus dem Buch vorlesen ging gar nicht. Marlise Ludwig ließ durchspielen oder unterbrach auch gleich, murmelte Kommentare beim Spiel und ließ uns Schülerinnen hinterher auch analysieren. Wer zerrissen wurde, brach in Tränen aus und lief zu Anna in die Küche, um sich auszuheulen.
Überhaupt Anna: sie war die Seele des Hauses. Und sie aß sehr gern Schokolade. Manchmal, wenn sie uns die Tür öffnete, sagte sie dabei: ‚Gnädige Frau ist heute ganz schlechter Laune.‘ Für eine Tafel Schokolade war sie in solchen Fällen jedoch gern bereit, bei ihr ‚gut Wetter zu machen‘.“
Brigitte Grothum erinnert sich auch an die Enge der Räumlichkeiten, eine Dreizimmerwohnung. „Aber das haben wir damals gar nicht wahrgenommen.“
Was machte die Ausbildung bei Marlise Ludwig so besonders? „Erstens hatte Sie eine sehr gute Nase bei der Auswahl ihrer Schülerinnen – zu meiner Zeit waren wir fast nur Mädchen. Dann hatte sie eine grandiose Art, uns zu unseren Rollen hinzuführen. Keine von uns fiel beim Vorsprechen bei den Theaterdirektoren durch, die damals noch in die Schauspielschulen kamen. So hatte ich mein erstes Debüt 1954 noch während meiner Ausbildung. Überhaupt hatte Marlise Ludwig einen todsicheren Instinkt für Gefühle und wie man sie als Schauspieler ausdrückt. Als Lehrerin war sie einmalig.“
Was haben Sie denn ganz besonders von ihr mitgenommen? „Genau dies: wie wichtig Gefühle sind. Und daß man sie unbedingt richtig einordnen muß, um zum Beispiel zu entscheiden, ob man in einem bestimmten Moment sitzenbleibt oder aufsteht.“
Und zum Schluß dieses Gespräches zwischen zwei Auftritten: Wie steht es mit den erwähnten Erinnerungen der Nachbarn? „Ja, am 1. März, da war der Geburtstag von Marlise Ludwig. Da kamen wir alle, Erich Schellow, Horst Buchholz, Harald Juhnke und wie sie alle hießen, und brachten ihr Blumen und Geschenke mit. Auf diese Gratulationen legte sie sehr viel Wert.“ Und der weiße Mercedes? „Der hat bestimmt keinem Schüler gehört!“
MichaelR
Herzlichen Dank an Frau Grothum für das Gespräch und die Überlassung des Fotos!
MichaelR - Gastautoren, Geschichte - 15. September 2016 - 00:24
Tags: plätze/schauspieler/schule/stadtgeschichte/straßen/wilhelmsaue
Kein Kommentar
Kein Trackback
Trackback link: