Straßen und Plätze: Ehemaliger Güterbahnhof Charlottenburg an der Sophie-Charlotten-Straße 1-4
(li. und re. das Gelände des ehemaligen Güterbahnhofs Charlottenburg)
Will man über den ehemaligen Güterbahnhof Charlottenburg an der Sophie-Charlotten-Straße sprechen, muß man mit dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 anfangen. Dazu hier im Zeitraffer die vom Kriegsende angestoßenen wesentlichen Ereignisse der 1870er Jahre, die zu dem Güterbahnhof führten:
Der Krieg als der Vater des Güterbahnhofs
Sieg im deutsch-französischen Krieg 1871 – Gründung des Deutschen Reichs mit der Hauptstadt Berlin – umfangreiche französische Kontributionen: 5 Mrd. Francs Reparationen und die Abtretung von Lothringen mit seinen Kohle- und Erzgruben, Hüttenwerken und Maschinenfabriken als Anstoß zur Hochkonjunktur der „Gründerjahre“ – starkes wirtschaftliches Wachstum von Berlin und umliegenden Orten, verbunden mit Zunahme der Bevölkerung (Berlin 1880 über 1 Mio.) – notwendiger Ausbau der Infrastruktur für Personen- und Güterverkehr auf der Schiene im Raum von Berlin und im Reich
In diesen zeitlichen Rahmen fiel die Schließung der Lücke in der Ringbahn zwischen Schöneberg und Moabit am 15.11.1877. Einer ihrer neuen Bahnhöfe war Charlottenburg-Westend südlich der Spandauer-Damm-Brücke (1). Wenig später entstand auf der Nordseite der Brücke ein Güterbahnhof der Lehrter Bahn (Lehrte bei Hannover – Spandau – Lehrter Bahnhof), deren letzter Abschnitt zwischen Spandau und dem Endbahnhof am 15.7.1871 vollendet worden war. Schon einen Monat danach votierten die Aktionäre auf ihrer Hauptversammlung am 26.8.1871 dafür, bei Fürstenbrunn einen Abzweig nach Charlottenburg zu schaffen und dort einen Güterbahnhof anzulegen. Der Grund für die Ortswahl war die „wachsende Bedeutung Charlottenburgs und besonders die lebhafte Entwicklung der dortigen Industrie“ (2). Mit königlichem Erlaß vom 26.2.1872 wurde dieses Vorhaben genehmigt.
Der neue Güterbahnhof lag beiderseits der Ringbahn und nahm am 1.5.1879 unter dem Namen Güterbahnhof Charlottenburg-Westend seinen Betrieb auf. Kurz vorher, am 15.4.1879, hatte die sog. „Kanonenbahn“, auch Wetzlarer Bahn genannt (Grunewald – Potsdam – Wetzlar – Koblenz – Metz (3)), ebenfalls einen Anschluß an die Ringbahn erhalten, so daß der Güterbahnhof bei seiner Eröffnung sowohl mit dem Ruhrgebiet als auch mit Elsaß-Lothringen verbunden war.
Während die Ringbahn sowie die „Kanonenbahn“ von Anfang an staatlich waren, befanden sich die meisten deutschen Eisenbahnstrecken 1871 im Besitz von privaten Aktiengesellschaften. Jedoch schon vor der Reichsgründung begannen heftige Auseinandersetzungen des einen Teils der Unternehmer, der – ebenso wie der Staat Preußen – für sich einen größeren Nutzen in einer Staatsbahn sah, mit dem anderen Teil, der weiterhin für private Eisenbahngesellschaften eintrat. Erstere siegten endgültig 1879, als das erste preußische Gesetz zur Verstaatlichung von Privatbahnen verabschiedet wurde und in dessen Folge Preußen zum 1.1.1880 Betrieb und Verwaltung der Lehrter Bahn – und damit den Güterbahnhof in Charlottenburg – übernahm. (4)
Wenig über Existenz und Niedergang, mehr als Ort von Sensationsgeschichten
Über die weitere Geschichte des Güterbahnhofs ist nur wenig in Erfahrung zu bringen: In dem Teil östlich der Ringbahn mit der Adresse Sophie-Charlotten-Straße 1-4 wurde vorwiegend Stückgut und Massengut umgeschlagen. Zweimal wurde der Bahnhofsname geändert: 1901 in Charlottenburg Güterbahnhof und am 15.5.1936 in Berlin-Charlottenburg Güterbahnhof. Zwischen 1939 und 1945 gab es den Plan, die vielen Groß-Berliner Güterbahnhöfe auf vier Standorte zu konzentrieren; einer davon sollte an dieser Stelle der Ortsgüterbahnhof West sein, allerdings mit vollständig auf die Westseite des Innenrings verlegten Anlagen.
rechts Sophie-Charlotten-Straße (Blickrichtung Nord), 1946
Die Verlagerung des Güterfernverkehrs von der Schiene auf die Straße nach dem Zweiten Weltkrieg (5) wirkte sich auch auf den Charlottenburger Güterbahnhof aus: 1967 wurde seine westliche Seite zugunsten der Stadtautobahn stillgelegt. Die Auflassung der Ostseite folgte Anfang der 90er Jahre bei der Umsetzung des „Pilzkonzepts“.
Das verlassene Gelände bot im Januar 1994 dem Kaufhauserpresser Arno „Dagobert“ Funke einen geeigneten Ort, um sich die geforderten 1,4 Mio. DM von der Polizei aushändigen zu lassen (wenn auch dieser 20. Übergabeversuch wieder scheiterte). Im Juni 1996 kam der Güterbahnhof erneut in die lokalen Schlagzeilen, als zwei Jugendliche dort mit einem Bagger eine Amokfahrt veranstalteten und einen Schaden von 1,5 Mio. DM anrichteten. Im November 1999 wurde das verwahrloste Gelände – in einer von Bundesbahn, Senat und Arbeitsamt finanzierten Aktion zur Säuberung von Bahnanlagen – von Arbeitslosen „aufgeräumt“ (Die Welt, 19.11.1999) und um 2002 die Gleise mithilfe einer Schlackeschicht „beseitigt“, die man vier Jahre später wieder entfernen mußte (und diesmal auch die Schienen), weil dort nun gebaut werden sollte (6). Dabei entstanden die üblichen Containergebäude eines Gewerbegebiets, in denen Autohäuser, ein italienischer Supermarkt, ein großer Fliesenmarkt, Geschäfte mit Bauelementen und für Innenausstattung, ein Küchenanbieter und eine Spedition residieren.
Nur wenig ist vom ehemaligen Güterbahnhof übriggeblieben: das Pförtnerhaus von 1894 (Ecke Mollwitzstraße) sowie ein Güterschuppen von 1892/93 mit Anbau von 1900 (Ecke Pulsstraße); sie stehen zusammen mit einigen weiteren Bruchstücken als Gesamtanlage unter Denkmalschutz (Dok.-Nr.: 09040607).
Der bezirkliche Bereichsentwicklungsplanung (BEP) vom Oktober 2007 bestimmt das ehemalige Bahnareal zum Gewerbegebiet. Zusätzlich wurde beim Kiezspaziergang im Oktober 2016 (Station 4.1) mitgeteilt, daß das gegenüber in der Mollwitzstraße 1 liegende Abwasserpumpwerk, erbaut zwischen 1888 und 1890, in den kommenden Jahren durch einen Neubau auf dem Gelände des früheren Güterbahnhofes ersetzt wird und dort auch ein neues Regenüberlaufbecken mit 7000 m³ Inhalt entsteht.
MichaelR
Material (soweit nicht aus den Links ersichtlich)
– Berlin und seine Eisenbahnen 1846-1896, hg. im Auftrage des kgl. preuß. Ministers der öffentlichen Arbeiten, 1. Bd., Berlin/Heidelberg (Springer) 1896 – S. 268
– Kuhlmann,Bernd, Bahnknoten Berlin. Die Entwicklung des Berliner Eisenbahnnetzes seit 1838, Berlin (GVE) 2. A. 2006 [Stadtbücherei: B 913 Bahn] – S. 19, 22, 25, 32f., 35, 75, 294
– ders., Die Berliner Bahnhöfe. Alle Fern-, Stadt- und Güterbahnhöfe, München (GeraMond) 2010 [Stadtbücherei: B 917 Bf Kuhl] – S. 13f., 103
Bildnachweis
1-3 – Wikipedia: „Preußische Staatseisenbahnen“; entnommen aus „Berlin und seine Eisenbahnen 1846-1896.“ (Diese Werke sind gemeinfrei, weil ihre urheberrechtlichen Schutzfristen abgelaufen sind.)
4 – nach einer Vorlage des Reichsbahnamtes 4, Berlin West, der DR der DDR. Ausgabe 1955, Stand 1964 (mit Dank an Ytracks)
5 – Cecil F. S. Newman, Last parade, 1946. Panzerwracks verschiedener Nationen auf dem Güterbahnhofsgelände an der Ringbahn nördlich des Bahnhofs Westend, rechts Sophie-Charlotten-Straße mit Blick Richtung Norden; Charlottenburg, britischer Sektor, Berlin, 1945/46. Inv.-Nr.: SM 2011-1705,20. Mit freundlicher Genehmigung der Stiftung Stadtmuseum Berlin.
Fotos (2008 - 2017) – maho
(1) Genaugenommen entstand er – siehe Abb. 1! – zunächst nördlich der Brücke und muß dann bald darauf auf die Südseite verlegt worden sein, um dem Güterbahnhof Platz zu machen. Der Bahnhofsname wurde am 15.10.1881 in Westend verändert– zur Unterscheidung von dem am 7.2.1882 eröffneten Bahnhof Berlin-Charlottenburg an der gleichzeitig in Betrieb genommene Stadtbahnstrecke.
(2) Berlin und seine Eisenbahnen 1846-1896, hg. im Auftrag des Kgl. Preuss. Ministers der öffentlichen Arbeiten, 1. Bd., Berlin/Heidelberg (Springer) 1896, S. 268
(3) Die Strecke wurde ab 1872 gebaut und war im April 1879 fast fertiggestellt. Mit ihr verfolgte Preußen militärische Zwecke (direkter Zugang zu den von Frankreich annektierten Gebieten) sowie wirtschaftliche (Lothringen!).
(4) Als letzte private Eisenbahn im Raum Berlin ging am 1.1.1884 die Berlin-Hamburger Eisenbahn, deren Gleise und Endbahnhof gleich neben denen der Lehrter Bahn lagen, in preußischen Besitz über.
(5) „Insgesamt verringerte sich der Anteil der Eisenbahn am gesamten Güterverkehrsaufkommen im Zeitraum von 1950 bis 2000 von 30,0 auf 7,6 %.“ (Hubert Becker, Ist die Eisenbahn im Güterverkehr noch konkurrenzfähig?, S. 6)
(6) Bericht in einem Eisenbahn-Forum (18.4.2006, 11:18)
MichaelR - Gastautoren, Geschichte - 04. März 2017 - 19:24
Tags: bahngleise/bahnhof/eisenbahn/güterbahnhof/plätze/stadtgeschichte/straßen
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