Gesänge des Unterganges
Der „Tod in Venedig“ an der Deutschen Oper
Jeder hat seine Sorgen. Wem es gelingt, daß die Menschheit seinem Klagelied zuhört und mit ihm in Trauer versinkt, der muß ein ganz großer Künstler sein.
Foto: Wecker
Solch ein Stoff ist in Venedig angesiedelt: Ein lüsterner alter Mann entflammt für einen Knaben. Zunächst hat es Thomas Mann fertiggebracht, aus diesem banalen Vorgang eine Novelle zu schreiben, die heute zum Kanon der Literatur gehört, dann vermochte es Luchino Visconti, diese Novelle in einen Film zu verwandeln, der in den Kanon der Cinematographie gelangte, und schließlich ließ sich Benjamin Britten von dem Film inspirieren. Er schuf aus dem Stoff eine Oper, die zum Kanon der Musikkultur gehört.
zu sehen ist. Allein im „Tod in Venedig“ spielt er acht Rollen. Foto: Wecker
Sie ist jetzt wieder, in der Deutschen Oper zu erleben. Schon ein Jahr nach ihrer Uraufführung 1974 wurde sie erstmals in dem Opernhaus in der Bismarckstraße aufgeführt.
Freilich haben all diese genialen Künstler aus diesem Stoff mehr gemacht, als das Gezeter eines alten Lüstlings, der nicht an das Ziel seiner perversen Begierde gelangt, zu Gehör zu bringen. So sieht es auch Donald Runnicles, der musikalische Leiter dieser neuen Aufführung im Berliner Opernhaus: „Ein alter Mann, der einem Jungen nachstellt, ist kein Thema für eine große Oper. Was man aus dieser vielschichtigen Oper herausfiltern kann, geht doch weit darüber hinaus. Sie fragt zum Beispiel: Sollte man von den verbotenen Früchten kosten?“ Doch selbst damit schätzt er die Tragweite des Operngeschehens zu bescheiden ein.
wie Alexandra Hutton neben Paul Niton in eher kleinen Partien zu erleben.
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Der alte Herr zerbricht nicht allein daran, daß er nicht einmal den Versuch wagt, gegen die gesellschaftlichen Normen zu verstoßen. Schon das würde reichlich Zündstoff in einer Zeit der „politischen Korrektheit“ bergen, deren hanebüchenen Auswüchse selbst Durchschnittsbürger in die Verzweiflung treiben. Im Körper des Opernhelden wütet jedoch außer der ungestillten Begierde auch der Schaffensdrang eines Genies, der nicht zum Ausbruch gelangen kann. Daran leidet er in einer allmählich und unaufhaltsam versinkenden Stadt, über der der Hauch des Todes schwebt. Der wird durch die unbeherrschbare Macht einer Choleraepidemie unmittelbar.
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Regisseur Graham Vick legt den Todeshauch vom Anfang bis zum Ende über das Bühnengeschehen. Die Oper beginnt und endet in einer Leichenhalle. Schon der Rahmen des von Fixiersäure halb entstellten überdimensionalen Porträts des Haupthelden könnte bereits die Zierde eines Sarges sein. Im zweiten Teil ist der Rahmen leer. Hinter ihm prangt dafür der Schriftzug „Achtung“. Stetiges Versatzstück ist dagegen ein Berg lila Tulpen, die anscheinend schon in Verwesung übergegangen sind.
des von Paul Niton gespielten Schriftstellers Gustav von Aschenbach.
Ihm wurden anspruchsvolle tänzerische Aufgaben übertragen.
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Besonders stolz ist das Haus darauf, daß die 25 anspruchsvollen solistischen Rollen aus den eigenen Reihen besetzt werden konnten. Eine Ausnahme bildet die Titelpartie, für die Paul Nilon gewonnen werden konnte. Der Brite ist zum ersten Male an der Deutschen Oper zu erleben. Damit wird die Inszenierung zu einer vornehmlich britischen Angelegenheit denn sowohl der musikalische Leiter als auch der Regisseur stammen ebenfalls aus dem Vereinigten Königreich.
Zu den Schwerpunkten, die sich die Deutsche Oper gesetzt hat, gehört auf Anregung ihres Generalmusikdirektors Benjamin Britten. Der „Tod in Venedig“ ist der vierte Teil des Brittenzyklus an der Deutschen Oper. Das ist aber nicht der Endpunkt der Auseinandersetzung mit diesem Komponisten an der Deutschen Oper. Doch in der nächsten Saison wird zunächst der Meyerbeerzyklus mit der Oper „Der Prophet“ vollendet werden.
Frank Wecker
FW - Gastautoren, Kunst und Kultur - 24. März 2017 - 00:24
Tags: gesang/komponisten/konzert/oper
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