Flucht und Gewalt
Carmen als FlüchtlingsdramaSeit 140 Jahren zieht „Carmen“ mit unverwüstlicher Kraft das Publikum in den Bann. Selten vereinigt eine Oper so viele populäre Schlager wie Carmen. Das beginnt mit dem wuchtigen Vorspiel geht weiter mit der Habanera, die mit „La Paloma“ zu den berühmtesten Partien dieser Art gehört, und reicht bis zum Auftrittslied des Toreros Camillo. Außer der Zauberflöte können mit dieser Popularität vielleicht noch Operetten und Musicals mithalten, denen es aber vergleichsweise an Tiefe fehlt. In dieser Oper brechen die Urgewalten menschlicher Triebkräfte wie Sexualität, Machtstreben und Liebe mit einer eruptiven musikalischen Gewalt hervor. Damit ist sie über alle Zeiten hinaus gültig und kann, was bei einer Operette nicht funktionieren würde, in ein beliebiges Zeitgewand gekleidet werden.
Foto: Wecker
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Soldaten und Zigarettenarbeiterinnen auf.
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Bei der jüngsten Premiere an der Deutschen Oper läßt Regisseur Ole Anders Tandberg die Geschichte in Bürgerkriegsregionen und Flüchtlingslagern spielen. Die Arbeiterinnen der Zigarrenfabrik einschließlich Carmen treten mit Dolchen bewaffnet auf. Micaela erreicht als Flüchtling Sevilla, wo sie von mit Kalaschnikows bewaffneten Guerillas vergewaltigt wird. Der Torero Escamillo wird von geilen Zigeunerinnen umgarnt. Der gewinnt Carmen, indem er ihr die gewaltigen Hoden des getöteten Stieres schenkt. Schließlich schneidet der Soldat Don Jose seinem ermordeten Vorgesetzten Zuniga die Nieren aus dem noch warmen Leichnam. „Es ist eine bedrohliche und erschreckende Welt, in die Bizet und seine Librettisten uns schauen lassen“, meint Regisseur Ole Anders Tandberg. Damit trifft er gegenwärtiges Zeitempfinden. Dazu hätte er aber weder Zeit noch Ort der Handlung ändern brauchen, denn heutige Befindlichkeiten kann selbst das antike Drama treffen. Ihm geht es jedoch im Konkreten darum, Gier und Profitstreben als zeitloses Handlungsmotiv herauszuarbeiten: Schmuggler würden heute „kaum Tabak und Kaffee schmuggeln, vielmehr Flüchtlinge, Drogen oder Transplantationsorgane“. Und jenseits dieser Aktualisierung gilt für ihn allgemein: „Es bleibt ein Stück über eine Frau, die vor gar nichts Angst hat außer vor echter Intimität. Ihr Handeln ist davon bestimmt, Nähe zu anderen Menschen zu verhindern. Sie spricht zwar immer wieder von der Liebe, unternimmt aber alles, um diese Liebe zu zerstören. Vielleicht muß sie deshalb sterben, weil sie dieses Paradox nicht aushält.“ Das scheint sein Thema zu sein, denn ähnliches handelt er in der Deutschen Oper bereits in seiner Inszenierung „Lady Macbeth von Mzensk“ ab.
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aus dem Körper des Ermordeten Zuniga (Tobias Kehrer) die Nieren aus.
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Kurucova) sind von der Manneskraft des Toreros Escamillo (Markus Brück) beeindruckt.
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Unter der musikalischen Leitung von Ivan Repusic wird „Carmen“ vor allem mit Clementine Margaine als Carmen, Heidi Stober als Micaela Tobias Kehrer als Zuniga und Markus Brück als Escamillo zu einem Hochgenuß. Wer die blutigen Bilder und den aktualisierten Handlungsstrang nicht sehen mag, kommt auch mit geschlossen Augen zu seinem Vergnügen, so daß die Karte allemal lohnt.
Die nächsten Vorstellungen sind am 24. und 27. Januar sowie am 4. und 10. Februar. Karten ab 52 Euro können unter Telefon 343 84 343 bestellt werden.
Frank Wecker
FW - Gastautoren, Kunst und Kultur - 21. Januar 2018 - 21:38
Tags: gesang/konzert/oper
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