Straßen und Plätze: Wilhelmsaue 31 – Vorstadtvilla und Gewerbe
In der Wilmersdorfer Dorfstraße, ab 1874 Wilhelmstraße, ab 1888 Wilhelmsaue, spiegeln nur noch wenige Gebäude den Übergang vom Dorf zur Großstadt (1) wider - also die Zeit zwischen dem Ende des Deutsch-Französischen Krieges 1871 und den frühen 1890er Jahren, als 4-5geschossige großstädtische Mietshäuser zunehmend auch in Wilmersdorf die Oberhand gewannen. Eines davon ist die Vorstadtvilla Hausnummer 31 (2).
Noch Mitte des 19. Jahrhunderts war Wilhelmsaue 31 Teil eines Grundstücks (Eigentümer: August Haupt), das gemäß „Lageplan von Dt.-Wilmersdorf im Jahre 1856" (Abb. 3) das gesamte Areal zwischen Wilhelmsaue (Nr. 31) und Berliner Straße (Nr. 125) bis hin zur Blissestraße einnahm. Im Lauf der folgenden Jahre war es in elf Liegenschaften geteilt worden, wobei dieses Grundstück zur Wilhelmstraße 17/18 wurde. Dem Baugesuch von Dezember 1886 für das heutige Wohnhaus ist ein Lageplan beigefügt (Abb. 1), der eine zu dieser Zeit fast unbebaute Liegenschaft zeigt, die tief in das Areal hineinreicht (und dort an das Grundstück Berliner Straße 125 stößt). Anstelle eines abgebrannten Wohnhauses sollte ein neues mit mehr als der doppelten Grundfläche entstehen, zweigeschossig, traufständig und mit fünfachsiger Fassade (Abb. 2), außerdem ein kleineres Stallgebäude an der rechten Grundstückgrenze. Bauherr war Friedrich Stork (1846-1897), von 1892 bis zu seinem Tod Amts- und Gemeindevorsteher von Wilmersdorf (3).
In den folgenden Jahren ging das Grundstück durch verschiedene Hände. Die Bauakte nennt als Eigentümer: 1899 den Rentier Sengspeck (4), 1901 Max Kuhne und 1906 Robert Zimmer, Fuhrherrn Albert Griebert und schließlich Fuhrwerksbesitzer Ludwig Budde. Mit ihm begann im Juni 1906 die Errichtung der umfangreichen Wirtschaftsgebäude, als er die Genehmigung für ein zweigeschossigen Stallgebäudes beantragte – an der hinteren Grenze und über die gesamte Breite des Grundstücks, mit „Dunggrube“ davor – für die Unterstellung von 72 Pferden, 36 je Geschoß. Die Pferdetreppe besteht heute noch (Abb. 3). 1908 errichtete Budde in der Mitte der linken Grundstückgrenze einen Wagenschuppen und nahm „kleine bauliche Veränderungen am [Pferde]Stallgebäude" vor, darunter den Ausbau des flachen Zwischenraumes zwischen Obergeschoß und Dach (Abb. 4). Sein Nachbar aus der Berliner Straße, Schmiedemeister E. Heinrich, legte beim zuständigen Kgl. Polizei-Präsidium Schöneberg gegen das von ihm vermuteten „Futtergeschoß" wegen der „außerordentlichen Feuersgefahr" Einspruch ein, der zurückgewiesen wurde, weil „der neu erbaute Bodenraum nur Lüftungszwecken dienen soll". Heinrichs Befürchtung war anscheinend nicht unbegründet, denn im Frühjahr 1911 zeigte er dem Polizei-Präsidium an, daß der neue Eigentümer, die Gebr. Haereke (Fuhrherr Karl/Carl Haereke), dort Stroh und Heu lagern würden (5).
Haereke setzte die von Budde eingeleitete hintere Grundstücksbebauung fort: 1911 Verlängerung des Wagenschuppens zum Wohnhaus hin und Bau einer Schmiede im Anschluß an das von Stork errichtete Stallgebäude (an der rechten Grundstückgrenze); 1912 Wagenremise (in Fortsetzung des Stallgebäudes Richtung Wilhelmsaue); 1914 Umwandlung des straßenseitigen Endes dieser Wagenremise in eine Garage („ Automobilstand“) (6). 1923 kam auch das Wohnhaus dran; die Baumaßnahme betraf das Obergeschoß des Anbaus am Ostgiebel und gab dem Haus sein heutiges Aussehen (Abb. 5). Ein Vergleich mit dem Baugesuch von 1886 (Abb. 2) zeigt, wie stark hier vom ursprünglichen Plan abgewichen wurde, mit der Folge, daß der Anbau stilistisch nicht mit dem Wohnhaus harmoniert und wie angestückelt wirkt.
1927 fand ein Eigentümerwechsel zu Paul Bernau, Inhaber der Fleisch-Werke Presto, statt. Er setzte 1928 die Umnutzung der bestehenden Wirtschaftsgebäude im Sinne des motorisierten Verkehrs fort mit dem Umbau des Erdgeschosses des Pferdestalls zu Garagen und Lagerräumen. Außerdem hatte er im Jahr zuvor die Genehmigung für „Reklamevorrichtungen“ beantragt, um die Öffentlichkeit auf die „Shell-Pumpe“ am Haus aufmerksam zu machen.
Nachdem Bernau zahlungsunfähig geworden war und nachdem das Grundstück ab 1931 zwischenzeitlich der Fa. Fuhrmann & Co. N.V. in Amsterdam (7) gehörte, erwarb es Kurt Kersten, Sanitätsgroßhandel, im April 1936 (8). Im Laufe desselben Jahres stellte er mehrere Neubauanträge, durch die die an der linken Grundstückgrenze noch bestehende Lücke geschlossen und das Gewerbeareal in zwei Höfe geteilt wurde, sowie Umbauanträge, durch die so gut wie alle Wirtschaftsgebäude in Garagen umgewandelt wurden (Einzel- und Sammelgaragen, außerdem eine Garage speziell für Kleinwagen). Gleichzeitig erweiterte er die „Shell-Pumpe“ zu einer „Tankanlage“ und wies auf einem Werbe-“Transparent“ auf seinen Garagenbetrieb mit „Wagenpflege“ und „Schmierdienst“ hin (April 1937). Hinzu kam für seinen Großhandel – neben der Umgestaltung der drei Geschosse des ehemaligen Pferdestalls in Räume für Lagerung, Verkauf und Büros – der Bau eines Ausstellungsraums direkt an der Grundstückseinfahrt gegenüber dem Wohnhaus.
Damit war vor 80 Jahren – 50 Jahre nach Storks Wohnhaus und 30 Jahre nach Buddes Pferdestall – im großen und ganzen die Entwicklung hin zum heute noch bestehenden Bebauungszustand von Wilhelmsaue 31 abgeschlossen. Abb. 6 zeigt von rechts nach links diesen heutigen Zustand (Angabe der ursprünglichen Nutzung): Ausstellungsraum, Remisen und Stall, am Ende die Schmiede, zweistöckiger Pferdestall mit ausgebautem Dachgeschoß, Garagen von 1936, Wohnhaus (von ihm verdeckt: Wagenschuppen).
Abb. 7 – Zaun des Vorgartens (siehe Text)
Was kann ein aufmerksamer Passant beim Vorbeigehen an zeitgeschichtlichen Eindrücken mitnehmen? Es sind dies Spuren aus den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs Ende April 1945, als die Rote Armee über Wilmersdorf zur Stadtmitte vorstieß: fehlender Stuck an der Hausfassade (vgl. Abb. 2 mit 5), der im Straßenkampf mit der SS zerschossen wurde; Überreste einer Waage (9) in der Grundstückseinfahrt (in Abb. 6 vorne erkennbar), die das Gewicht eines sowjetischen T 34 nicht ausgehalten hatte; und der Zaun um den Vorgarten, der ebenfalls durch einen Panzer beschädigt und sogleich eher behelfsmäßig wiederhergestellt wurde (Abb. 7: re. der Originalzaun, li. die ausgebesserte Stelle ohne den schmiedeeisernen Schmuck an den Spitzen von Pfosten und Stäben).
MichaelR
Herzlichen Dank an den heutigen Eigentümer sowie das Bauarchiv für ihre Unterstützung.
(1) Siehe dazu den Abschnitt „Vom Dorf zur Großstadt"
(2) Zu ihrer Bewohnern gehörte um 1900 der Konteradmiral Paul Zirzow (1838-1912) und seine Gemahlin, „Frau Contre-Admiral“, die im Deutschen Kolonialhandbuch von 1901 als Vorstandsmitglied des Deutschen Frauenvereins für Krankenpflege in den Kolonien („Allerhöchste Protektorin: Ihre Majestät die Kaiserin und Königin Auguste Victoria“) aufgeführt wird.
(3) Nach ihm ist die Straße Storkwinkel in Halensee genannt; hier ein Foto von ihm aus dem Jahr 1896. Sein Vorgänger warBernhard Güntzel (Güntzelstraße), sein Nachfolger Ernst Habermann (Habermannplatz, Ernst-Habermann-Grundschule).
(4) Am 10.10.1900 monierte die Bau-Polizei, er habe „im Garten zwei Hühnerhäuser, ca. 0,80 Mtr. lang, 0,80 Mtr. breit, und 1,50 Mtr. hoch, errichten lassen, ohne im Besitz der baupolizeilichen Genehmigung zu sein“.
(5) Heinrich hatte schon am 23.7.1906 überhaupt gegen den Bau des Pferdestalles Beschwerde eingelegt, weil es dann „schon früh morgens von 4 Uhr ab mit der Ruhe der Anwohner vorbei ist und daß diese Ruhe auch noch nach 10 Uhr abends durch eintreffende Fuhrzeuge gestört wird“.
(6) Diese Garage stand unter besonderer behördlicher Aufsicht: „Es ist empfehlenswert, durch das zuständige Polizei-Revier in größeren Abständen (viertel- oder halbjährlich) kontrollieren zu lassen, in welcher Weise die Räumlichkeiten verwendet werden. Der Branddirektor“ (Dezember 1920).
(7) Im Erwiderung auf eine denunziatorische Anzeige gegen die Firma wies im Mai 1943 deren Rechtsvertreter drauf hin, daß sie „eine echt deutsche Firma ist, die in Holland nur ein Zweiggeschäft unterhält. Die Firma besteht seit Jahren in Deutschland, ist rein arisch.“
(8) 1936 – Jahr der Olympiade. Die Bevölkerung wurde von den Behörden „mitgenommen“, um auf die Besucher einen ordentlichen Eindruck zu machen:
Weitere baupolizeiliche Aufforderungen zum Aufräumen von Wilhelmsaue 31 betrafen den Misthaufen vor dem ehemaligen Pferdestall und das Winterquartier eines Zirkus in den Remisen.
(9) Sie war, ebenso wie die nach dem Krieg beseitigte Tankstelle, vermietet. Mit ihr wurden Kartoffeln, Koks und Kohlen gewogen.
MichaelR - Gastautoren, Geschichte - 21. Januar 2018 - 21:32
Tags: plätze/stadtgeschichte/straßen/wilhelmsaue/wilmersdorf
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