Lesetipp IX: Weltgeist im Selbstgespräch
„Berlin müßte Stadt der Intellektuellen und der Elite sein, aber die Stadt in ihren politischen Strömungen ist nicht elitär aufgestellt, sondern in ihrer Gesinnung eher plebejisch und kleinbürgerlich.“ Dieses müde Lamento stammt von Thilo Sarrazin, seines Zeichens von 2002 bis 2009 Finanzsenator Berlins und seit Mai dieses Jahres Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank in Frankfurt am Main. In einem langen Gespräch mit der Zeitschrift „Lettre International“ äußert sich der spröde Technokrat, der schon mit zynischen Vorschlägen zur Ernährung von Hartz-IV-EmpfängerInnen unangenehm auffiel, zu den kulturellen, politischen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Perspektiven der Hauptstadt. Das Interview sorgt seit Tagen für Wirbel in den deutschen Medien, da Sarrazin sich wegwerfend über Unterschicht und Prekariat auslässt und speziell den arabisch- und türkischstämmigen BerlinerInnen den Willen zur Integration in die deutsche Gesellschaft abspricht. Die Publizität, die das aktuelle Heft von „Lettre International“ im Zuge des Interviews erhält, ist zweischneidig, droht doch der Rummel um die Positionen Sarrazins das brillante Ganze in den Schatten zu stellen. Dabei hat die Redaktion einen wahrlich großen Wurf vollbracht. Auf gut 250 Seiten entblättert sie ein Panorama der Stadt 20 Jahre nach dem Mauerfall aus der Perspektive der Sinnierenden und Schöpferischen.
Die Geschichte von Europas Kulturzeitung beginnt 1984. In Paris gründet der tschechische Dissident Antonin Liehm „Lettre Internationale“, die sich rasch zum Forum einer globalen, speziell der osteuropäischen Intelligenz mausert. In der Endphase des Kalten Krieges diskutieren die AutorInnen politische und kulturelle Fragen über die Grenzen der Blöcke hinweg, dabei fest an die transformierende Kraft der Sprache glaubend. Im universalen Geist des Heftes, folgen Redaktionen in Madrid und Rom. 1988 erscheint in Berlin die erste deutsche Ausgabe von „Lettre“, unter Anschubhilfe der taz. Von Beginn an arbeiten weltweit renommierte bildende KünstlerInnen für das Projekt: So werden die Titel einzelner Hefte exklusiv u. a. von Georg Baselitz, Markus Lüpertz, Rebecca Horn, Per Kirkeby, Jörg Immendorff, Geneviève Cadieux oder Rosemarie Trockel gestaltet. Nach der Zeitenwende von 1989/90 entstehen Ableger in Prag, Sofia, Zagreb, Bukarest und Moskau, die jedoch wegen finanzieller Probleme ihr Erscheinen wieder einstellen müssen. Speziell die deutsche Ausgabe von „Lettre International“ überrascht immer wieder mit mutigen Aktionen: 1995 wird vor dem Hintergrund des Krieges im zerfallenden Jugoslawien das Heft „Hommage à Sarajevo“ publiziert, 2003 stiftet „Lettre“ den Ulysses-Award für Reportageliteratur. Die aktuelle Druckauflage des quartalsweise erscheinenden Heftes wird vom Verlag mit 25 000 Exemplaren angegeben.
Der Mauerfall 1989 bringt Berlin eine Stunde 2.0. Am Rande Westeuropas gelegen, rückt die kriegsverwüstete, geteilte Stadt ins Zentrum eines sich rapide wandelnden Kontinents. Die Bilanz zwanzig Jahre später inszeniert „Lettre“ als Selbstgespräch des Weltgeistes: über 60 Dichtende, Fotografierende, Stadtplanende und Philosophierende räsonieren über den Wandel und stellen implizit die Frage, ob Berlin mittlerweile erwachsen ist? So muss man sich wohl Platons „Symposion“ vorstellen: mit verschwenderisch viel Zeit, Raum, Muße und Esprit gehen die Diskutierenden Detailfragen nach, tragen die Antworten wie Mosaiksteinchen zusammen und genießen das ständige Verändern des Gesamtbildes, dessen Rahmen Berlin als offene Stadt umfasst. Der Philosoph Boris Groys nennt Berlin angesichts der zahllosen Menschen, die keiner produktiven Arbeit nachgehen und Zeit und Energie in obskure Projekte stecken, den „Jurassic Park des realen Sozialismus.“ Der Kultursoziologe Andreas Reckwitz weist auf die Funktion der „Solitärarchitektur“ (Hauptbahnhof, Kanzleramt, Galeries Lafayette) hin, die im globalen Städtemarketing Aufmerksamkeit generieren soll. Zwischen diesen Polen changiert der Alltag in Berlin: chronifizierte Verelendung der in verschärfter Konkurrenz um Arbeit Abgehängten versus Metropolenwettbewerb im ästhetischen Kapitalismus mit den Trümpfen von Wissenschaft und Kultur.
Architektonisch liegt Berlin näher an Schinkel und Scharoun als an Speer; Fragen der Stadtentwicklung (Potsdamer Platz, Schlossneubau) werden nicht pragmatisch, sondern prinzipiell diskutiert, so die Religionswissenschaftlerin Sigrun Anselm. Die niedrigen Mieten ziehen Kunstschaffende aus aller Welt an; ein sperriger Genius Loci beflügelt die Club- und Subkultur, die nach der Gentrifizierung von Mitte und Prenzlauer Berg verstärkt in Friedrichshain und (wieder) Kreuzberg domiliziert ist. Inmitten der Flut an Publikationen zu 1989/90 sticht die aktuelle „Lettre International“ angenehm heraus; der luxuriöse Rundgang durch die Quartiere von Geist und Kunst wird auch in 20 Jahren noch von Bedeutung sein, als Gedächtnis einer Identität im Werden und als Quelle weiterer Forschung. Ein solch opulentes Heft wäre nach den Marktvorgaben der großen Verlage völlig undenkbar: Format von knapp unter DIN A 3 zu unhandlich, Bleiwüste, Auflage zu klein, Zielgruppe zu elitär (freilich nicht im Sinne Sarrazins), keine telegenen Prominenten, fehlende Relevanz für die werbetreibende Wirtschaft, im Anspruch zu idealistisch. Sinnlich erfahrbar wird die Berliner Gegenwart durch die exzellenten Fotos, Zeichnungen und Collagen, die das Heft rhythmisieren und immer wieder beim Lesen inne halten lassen. Solange solche Zeitschriften möglich sind, werden hochwertiger Journalismus und gehaltvolle Printprodukte bleiben. Liebhaber dafür gibt es genug.
Lettre International - Europas Kulturzeitung, Heft 86: Berlin auf der Couch. Autoren und Künstler zu 20 Jahren Mauerfall, Herbst 2009. Erhältlich im gut sortierten Buch- und Zeitschriftenhandel, im Kiez in Arnolds Buchhandlung in der Danckelmannstraße 50. Preis 17,- €. Leseproben unter www.lettre.de
Andrea Bronstering - Gastautoren, Geschichte, Kunst und Kultur - 16. Oktober 2009 - 00:02
Tags: berlin/kulturzeitung/lettre_international/mauerfall/sarrazin
neun Kommentare
Nr. 3, maho, 17.10.2009 - 20:17 Hallo Ulli, und was sollen wir da machen? Ohren (und Augen) zuhalten? Leute wie Sarrazin sind wenigstens offen beim “Rausrotzen” (das Inhaltliche mal weggelassen). Schau mal das an: http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziale.. Ha ha, sage ich da nur. Hier noch drei passende Artikel: http://www.faz.net/s/Rub0E9EEF84AC1E4A38.. http://www.readers-edition.de/2009/10/17.. http://www.readers-edition.de/2009/10/17.. Was sagst Du denn, um mal beim Kiez zu bleiben, zu einer Frau Radziwill von der SPD, die die Betroffenheits-Vorstellung dazu beim rbb ablieferte, aber nicht Frau Junge-Reyer angreift und damit ihre eigenen Landsleute bei den Mieten im Regen stehen läßt und sich offensichtlich einen Dreck darum kümmert? Mal ganz abgesehen davon, was dahinterstecken könnte und was sie sonst noch hier politisch im Kiez ablieferte. |
Nr. 9, maho, 24.11.2009 - 01:23 Ein aktueller Blick in die und Kommentar aus der Auguststrasse : http://auguststrasse-berlin-mitte.de/die.. |
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„Jurassic Park des realen Sozialismus“ – es kommt ja weniger darauf an, ob eine Formulierung gut klingt, sondern was von ihrem argumentativen Kern zu halten ist!
Ich kann diese ewigen Hetztiraden gegen die Arbeitslosen nicht mehr hören, auch wenn sie im intellektuellem Mäntelchen daher kommen. Seit Jahrzehnten gibt es in Deutschland eine strukturelle Massenarbeitslosigkeit, die von Konjunkturzyklus zu Konjunkturzyklus anwächst. Heute gibt es offiziel 3,5 Millionen Arbeitslose, hinzu kommen eine gute Millionen in Kurzarbeit und eine weitere gute Million in 1-Euro-Jobs und ähnlichem. Dazu kommt noch eine "stille Reserve" von 2 bis 3 Millionen. Insgesamt sind das 7 bis 8 Millionen Arbeitlose.
So gesehen ist Berlin eher ein Zukunftspark: Der eine sehr reichen Gesellschaft mit extrem hoher Arbeitsproduktivität, die jedoch keinen vernünftigen sozialen Ausgleich findet und sich deshalb für immer mehr Menschen in eine Mangelgesellschaft verwandelt.
Vielleicht war Sarrazin doch nicht so ein einsamer Ausrutscher in dem Heft. Man sollte eben hinter den schönen Schein sehen.