Leseempfehlung (8): "Unsere Straße" von Jan Petersen
Am 15. Juni 1934, vor fast 76 Jahren, als man die Gegend um die Seelingstraße den "kleinen roten Wedding" nannte, bevölkerten auffällig viele Passanten die Gehwege, argwöhnisch überwacht von Polizei und SA. Sie warteten auf einen pferdegezogenen Wagen mit der Leiche von Richard Hüttig. Es war sein letzter Wunsch gewesen, noch einmal durch seine Straße gefahren zu werden, in der er in Nummer 21 gewohnt hatte. Als der Leichenwagen in die Straße einbiegt, bilden die Menschen ein dichtes Spalier. Stille. Atemlose Stille. Hell klappen die Pferdehufe. Der Totenwagen kommt langsam näher. Da fliegt ein roter Blumenstrauß durch die Luft, prallt gegen den Totenwagen. "Du bis für uns gestorben, Genosse Hüttig!", ruft eine Frau mit gellender Stimme. Auf einmal sind wir alle ein Mund. Hundertstimmig schreit es in der engen Straße: "Rache! Rache! Rot Front!" Der Totenwagen hält mit einem Ruck. Die Uniformierten laufen auf die Bürgersteige zu. Sie schlagen zwischen die Menschen, reißen Menschen zu Boden.
Das Pariser Tageblatt, eine deutsche Emigrantenzeitung, berichtete am 25.4.1934 auf der Grundlage eines "ausführlichen Prozessberichts, der von einem hohen Justizbeamten angefertigt wurde", über den Ahé-Prozeß: Demnach kam es zu einer Schlägerei zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten. Die Kommunisten waren unbewaffnet, ein SA-Mann hatte einen Revolver, dessen Kaliber identisch war mit der für Ahé tödlichen Kugel. Der gerichtliche Schußsachverständige erklärte, "es sei sehr wahrscheinlich, dass der tödliche Schuss von (dem SA-Mann) stamme". Zwei weitere Versuche, Richard Hüttig zum Todesschützen zu machen, scheiterten ebenfalls, da die Mitangeklagten die mittels Peitschen von ihnen erpreßten Beschuldigungen widerriefen und der Hauptbelastungszeuge durch medizinische Sachverständige widerlegt wurde. In mehreren Rücksprachen des Staatsanwalts mit dem Staatssekretär im Justizministerium, dem späteren Präsidenten des Volksgerichtshofs R. Freisler, wurde als neue Linie festgelegt, "die Kommunisten seien nunmehr moralisch schuld". Infolgedessen wurde Richard Hüttig nicht als Todesschütze, sondern als 'Rädelsführer' wegen Landfriedensbruchs und versuchten Mordes zum Tode verurteilt, die 17 Mitangeklagten - es handelte sich um die anderen Mitglieder der Häuserschutzstaffel - bekamen insgesamt 112 Jahre Gefängnis und Zuchthaus; Rechtsmittel waren nicht zugelassen. Sechs der ursprünglich 24 Verhafteten waren schon vor Prozeßbeginn in der SA-Haft zu Tode gebracht worden; von ihnen sind namentlich bekannt Paul Voss (29 Jahre), Martin Michallak (25 Jahre) und Walter Drescher (29 Jahre).
Ziel dieses Prozesses war es gewesen, den immer noch vorhandenen Widerstand gegen die nationalsozialistische Machtübernahme zu brechen. Wesentlicher Teil dieses Widerstandes waren die Häuserschutzstaffeln gewesen, parteiübergreifende Organisationen von Straßenbewohnern, um sich gegen die Überfälle insbesondere der SA zur Wehr zu setzen. Der Maurer Richard Hüttig, Mitglied der KPD, 1928 im Alter von 20 Jahren nach Berlin gekommen, war allgemein bekannt als deren Leiter in Charlottenburg und daher bei den Nationalsozialisten besonders verhaßt. Mithilfe der Justiz entledigte man sich schließlich seiner und seiner Mitkämpfer.
Was erinnert heute noch an sie sowie die Opfer der SA? Da ist einmal die Tafel für Richard Hüttig am Haus Seelingstraße 21, außerdem in der Schloßstraße 22 eine Gedenktafel für Otto Grüneberg, der am 1.2.1931 dort auf offener Straße von Mitgliedern des SA-Sturms 33 erschossen wurde:
Weiterhin gibt es die 1950 nach ihm benannte Straße zur Hinrichtungsstätte in Plötzensee, den Hüttigpfad , sowie seit 1989 den Otto-Grüneberg-Weg.
Und schließlich den Tatsachenroman "Unsere Straße", der mit einer Totenliste der fünfzehn Opfer des SA-Sturms 33 beginnt und mit der eingangs geschilderten Szene endet.
Jan Petersen (eig. Hans Schwalm), geboren 1906, trat 1921 der KPD bei und spielte eine wichtige Rolle in ihrem Kulturbereich. 1935 ging er ins Exil (erst die Schweiz, dann England), wurde - wie viele andere - 1938 zwangsausgebürgert, kehrte nach dem Krieg nach Deutschland (Ostberlin) zurück und leitete bis 1955 den Deutschen Schriftstellerverband der DDR. Er starb 1969; im Bezirk Marzahn ist eine Straße nach ihm benannt.
Wann wird auch ihrer öffentlich gedacht, zum Beispiel mit privaten "Stolpersteinen"
vor ihren letzten Wohnungen oder aufgrund einer
Initiative der Gedenktafelkommission der Bezirksverordnetenversammlung?
Jan Petersen, Unsere Straße (Stadtbücherei: G/Q452,4 Pete)
Die Prozeßakten können im Landesarchiv (Telefon 90264-237)
unter dem Aktenzeichen A Rep. 355 lfd. Nr. 4139 bis 4152 eingesehen werden.
MichaelR
Michael R. - Gastautoren, Geschichte - 27. Februar 2010 - 00:02
Tags: berlin_charlottenburg/hüttig/kpd/schloßstrasse/seelingstrasse
ein Kommentar
Kein Trackback
Trackback link:
“ .. Wenn Historiker im nachherein feststellen, daß die fehlende Bereitschaft von KPD- und SPD-Führung zum gemeinsamen Widerstand gegen den Nationalsozialismus von entscheidender Bedeutung für die Niederlage war und daher zu unnötigen Opfern geführt hat, so trifft das zu und sollte diskutiert werden. ...”
Dazu einige Fundstücke für die SPD zur Aufarbeitung ihrer Geschichte:
“...Von wegen “Land der Dichter und Denker”. Vor 80 Jahren zeigt der teutonische Geist ein ganz anderes Gesicht als das der vielgerühmten Freiheit – und zwar eine üble Fratze. ....”
http://www.heise.de/tp/artikel/39/39071/..
“...Die Voraussetzungen dafür hat die SPD 1919-21 mit ihrem Blutbad unter den linken Arbeitern geschaffen. Ihre Kumpanen haben 1933 vollendet, wofür beim Kapp-Putsch die Zeit noch nicht reif war. ...”
http://www.heise.de/tp/foren/S-Es-sind-N..
“... Am 30. März ’33 dann trat die SPD aus der sozialistischen Arbeiterinternationale (SAI) aus, nachdem diese in einer Resolution von einer “faschistischen Gewaltherrschaft” in Deutschland gesprochen hatte. Als Grund für den Austritt wurde genannt, dass die SAI zum Kommunismus tendiere. ....”
http://www.gbg-koeln.de/denkmal/m33/spd...
“...Nie aufgearbeitete historische Fehler
..... Vielmehr ist eine gewisse Unberechenbarkeit bereits seit 1913 Teil ihrer Geschichte. ...”
Konstantin Brandt: “Das kleine Schwarzbuch der deutschen Sozialdemokratie”
http://www.heise.de/tp/artikel/38/38591/..