Thierse, Lammert, Gabriel, Guttenberg, Westerwelle, Medien, Afghanistan
Herr Thierse (SPD), der sich bei solchen Gelegenheiten gern befragen läßt, kann nicht nur, sondern muß geradezu dem Ausschluß fast einer ganzen Fraktion von der Bundestagsitzung am Freitag (26.2.10), verfügt von Herrn Lammert (CDU) unter dem Beifall der anderen Parteien, zustimmen, weil diese Fraktion "in gröblichster Weise gegen die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages verstoßen" habe, denn "der Bundestag ist der Ort des Austausches mit dem Wort", und "er muß sich schützen vor seiner Instrumentalisierung für medial-politische Events". Wenn er das nicht tue, dann gefährde er seine Arbeit.
Worin bestand am Freitag die Arbeit des Bundestages? Sie bestand darin,
zum zehnten Mal dem Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan, wieder einmal
verbunden mit einer Erhöhung der Anzahl der Soldaten, zuzustimmen. Was
hätte beinahe den Bundestag bei dieser Arbeit gefährdet? Die schweigend
von den Mitgliedern der Links-Fraktion hochgehaltenen Plakate mit Namen
von bei Kundus - im Auftrag der Bundeswehr, die dort wiederum im Auftrag
der Mehrheit des Bundestages agiert - getöteten Zivilisten, während
gerade ein Fraktionsmitglied am Rednerpult sagte: "Wie auch immer Sie
den Krieg rechtfertigen: Sie entscheiden heute über Leben und Tod."
Hat die Rednerin vermittels dieses "Austauschs mit dem Wort" die
Abgeordneten der jetzigen und früheren Regierungsparteien erreichen
können? Nein: 73% der Abgeordneten stimmten für Fortsetzung des Krieges:
CDU, CSU und FDP fast einstimmig, die SPD zu vier Fünfteln, die Grüne
Partei zu zwei Dritteln.
Wie kommt es, daß jemand wie Herr Thierse, der sich dabei ablichten
ließ, wie er, in Nachstellung einer Szene aus dem Neuen Testament, auf dem Frankfurter Kirchentag 2001 demütig einem
Mitmenschen die Füße wusch und damit wohl allen vor Augen führen wollte,
wie sehr er im christlichen Glauben verankert ist, zu dessen
Grundpfeilern allerdings auch die Zehn Gebote gehören, darunter das
sechste: Du sollst nicht töten. - wie kommt es also, daß so
jemand in diesen Plakaten einen "gröblichsten" Verstoß sieht, nicht
jedoch in seiner Zustimmung zur Fortsetzung dieses Krieges und damit zur
massenhaften Verletzung des sechsten Gebotes einen noch viel
gröblicheren Verstoß gegen seine Glaubensgrundsätze und außerdem noch
gegen die Würde des Menschen, zu der doch zuallererst das Recht auf
Leben und körperliche Unversehrtheit (Artikel 2 Grundgesetz) gehört,
worüber er bei feierlichen Anlässen gern einmal spricht? Fühlt er
irgendwo in seinem Innersten, daß er als Führungskraft der "politischen
Klasse" eine Mitschuld trägt, und will sein Gewissen lautstark übertönen
(Herr Gabriel (SPD) benutzte sogar den Begriff "Klamauk")? Oder
orientiert er sich staatsmännisch an Voltaires sarkastischer Ergänzung
zum sechsten Gebot, wonach selbstverständlich das
Töten im Krieg von dem göttlichen Verbot ausgenommen ist?
Und ist nicht überhaupt jede von Radio und Fernsehen übertragene
Bundestagsrede irgendwie ein "medial-politisches Event", also ein
Ereignis im politischen Bereich, das von den Medien verbreitet wird? Plädiert Herr Thierse etwa
in letzter Konsequenz dafür, die Redner immer sogleich des Saales zu
verweisen?
Der Vollständigkeit halber, damit keine Farbe des Parteiensprektrums zu kurz kommt: Herr Guttenberg (CSU) nannte die Plakataktion ein Zeichen "schlechter Kinderstube". Weiß Herr Guttenberg denn nicht, daß er das ist, was man im letzten Jahrhundert ehrlicherweise einen Kriegsminister nannte und daß "gute" Kinderstube in seinem Geschäftsbereich - außerhalb des Offizierskasinos - eigentlich ein unbekannter Begriff ist? Und Herr Westerwelle (FDP) spricht gar von einer "Beschädigung des Parlaments". Er hat recht, wenn auch etwas anders: Ein Parlament, das in dieser Angelegenheit schon seit geraumer Zeit den Willen einer Mehrheit von jetzt schon 69% der Bundesbürger mißachtet, ist bereits beschädigt: Selbstbeschädigung durch "gröblichste" Mißachtung des Willens des Volkes, das man doch zu vertreten beansprucht.
Und wie sieht man bei der Vierten Gewalt, die sich gern als Kontrollinstanz der drei Staatsgewalten versteht - wie sieht man also in den Medien die Plakataktion? Der Kommentator der Berliner Zeitung stellt fest, "das Parlament ist der Ort der verbalen Auseinandersetzung, nicht der plakativen", womit er sich als Sprachrohr der Bundestagsmehrheit zu erkennen gibt, ohne einen Ansatz von einer eigenen Idee. Und der Kommentator des Deutschlandfunks, ein Journalist von der Süddeutschen Zeitung, geht noch weiter, indem er der Fraktion bescheinigt, daß sie "in spektakulärer Weise das Parlament verhöhnte, indem sie allen demokratischen Anstand fahren ließ und das Plenum als einen Aufmarschplatz für eine Demonstration mißbrauchte". Er scheut also nicht davor zurück, den tatsächlichen Vorgang "aufs gröblichste" zu verzerren, womit er seine Pflicht zur sachgerechten Information seiner Hörer verletzt, von Kontrolle ganz zu schweigen.
Quellen:
Berliner Zeitung, 27./28.2.10, S. 1, 2 und 4
Deutschlandfunk, 27.2.10, Themen der Woche
MichaelR
Michael R. - Gastautoren, Politik - 01. März 2010 - 00:01
Tags: afghanistan/bundestag/krieg
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