Herr Welle kam, nahm und kriegte
Es gibt viele Wellen, die einen überrollen können, Wellen, in denen man ertrinken kann. Im Hochsommer 2010 überrollte ein Tsunami der besonderen Art ein stattliches Mehrfamilienhaus in der Nähe des S-Bahnhofes Charlottenburg: Ein neuer Hauseigentümer übernahm Haus, Hof und Mieterschaft. Nennen wir ihn also „Herr Welle“.
Bewohner des Kiezes nördlich der S-Bahntrasse hatten viele Jahre lang für die Schaffung eines grünen Platzes gekämpft und seine Gestaltung aktiv durchgesetzt. Es war Zeit für die Wertschöpfung. Nein, nicht etwa für die Anwohner! Im Gegenteil: profitieren sollten im Zuge der allgemeinen Aufwertung der westlichen Innenstadt und der Hauptstadt allgemein die Hauseigentümer, bluten die Anwohner. Es wurde Zeit, einen früher anrüchigen Kiez zur „guten Wohnlage“ zu adeln und weiter den Rahmen bezahlbarer Mieten sprengen. Herr Welle kam also nicht ohne Absichten.
Bei seiner Übernahme des weiträumigen Hauses standen mindestens drei Wohnungen leer. Herr Welle war ein Glückspilz. Diese Zweizimmerwohnungen gingen weg wie „Coffee to go“; versteht sich: mit horrenden Mietpreissteigerungen. Herr Welle flankierte die Mietsteigerungen, die den neuen Mietern verborgen blieben, mit Ankündigungen von weiteren Modernisierungsumlagen. Das 30-jährige Westdeutschland und das Ausland, das Einzug hielt, waren, was Mietpreise betraf, so verdorben, dass sie Berliner Mieten als „preiswert“ und die legitimen Bestandsmieten fast als „Unrecht“ erachteten. Sie wussten nichts vom jahrzehntelangen Westberliner Kampf für bezahlbare Mieten, nichts davon, dass Hauseigentümer einst wegen „Wuchers“ belangt werden konnten, nichts davon, dass auch die Bestandsmieten für die notwendige Instandhaltung ausreichten, wenn man sie denn in das Haus und seine Substanz investierte. Und Modernisierungen mussten eh und je von den Mietern getragen werden.
Das große Mehrfamilienhaus war eine verlockende Goldgrube. Zu viele große Wohnungen waren noch zu legalen Mieten vermietet, die weit unter den Vorstellungen des Herrn Welle lagen. Kurzerhand wurden Haus, Hof, der von Mietern kostenlos angelegte und gepflegte Grünbereich und natürlich das Wohnumfeld mit Schloss, Lietzenseepark und Kudamm als „hochwertig“ deklariert. Jede alte Kieferndiele konnte und sollte versilbert werden, jeder Messingbeschlag, jedes schüchterne Stuckelement: „hochwertig“ natürlich. Instandsetzungen wurden probehalber als „Modernisierung“ lanciert, um die Bestandsmieten so schnell wie möglich auf das angestrebte Mietniveau hochzuhebeln. Alles in dem stattlichen Haus wurde „vermarktet“. Erste Mieter strichen die Segel, verließen das Haus über ein Sonderkündigungsrecht, aber keineswegs freiwillig. Andere ließen sich verklagen. Man harrte der Dinge, die Herr Welle über die Mieterschaft ergießen würde. Ihm und seinem Traum der Neuvermietungen dauerte das alles zu lange. Doch gegen derartige Renitenz gab es probate Mittel:
Zum Einsatz kamen professionelle Schikanen und Psychoterror durch die Hausverwaltung gegen Mieter, die man dort in „Gutwillige“ und „Böswillige“ einteilte. Wer sich lukrativeren Mietzahlungen verweigerte und auf gerechtfertigte Mietsteigerungen pochte, war ein „Böswilliger“ und das waren fast alle „Altmieter“, die Herr Welle unverdrossen gegenüber der neuen Mieterschaft anprangerte. Er rekrutierte eine tatkräftige Unterstützung aus dem Kreis der „Gutwilligen“, die wir noch vorstellen werden.
Innerhalb seines ersten Jahres im Haus hatte Herr Welle ein Drittel der gesamten Mieterschaft mit Drohungen, Verleumdungen, Klageandrohungen, versuchten fristlosen Kündigungen, mit überzogenen Mieterhöhungsverlangen, mit Klagen wegen angeblich unerlaubter Untervermietung, wegen Betruges (gerechtfertigte Mietminderungen), mit irrationalen Verboten, sogar Kommunikationsverboten und anderen Repressalien aufgeschreckt, eingeschüchtert und kriminalisiert. Er ließ Handwerksfirmen und Hausmeister gegen missliebige Mieter aussagen. Bei „Strafe“ wurde auch ihnen die Kommunikation mit den „Böswilligen“ untersagt.
Herr Welle hatte wenig Erfolg mit seinen Klagen, zerrte aber erfolgreich an den Nerven der auf der Abschussliste stehenden Bewohnern. Der Zermürbungstaktik war nicht jeder gewachsen. Alsbald drängte er Kranke und Lahme aus dem Haus heraus, zahlte ihnen lächerlich niedrige Abfindungen. Rechtzeitig starben zwei weitere Mieter. Mietaufhebungsverträge schoben im Winter 2010/2011 die ersten Kühe vom Eis, was im Frühjahr 2011 Herrn Welle drei weitere freie Wohnungen bescherte. Nach der Sanierung dieser Wohnungen stiegen ihre Mieten auf über 10,-- € pro Quadratmeter, verdoppelten sich, übertrafen das Niveau des Mietspiegels bei weitem – wahrhaftig „hochwertig“. Im größten Aufgang jenes Hauses war die Hälfte der Mieter ausgewechselt: zehn von zwanzig. Das Geschäft mit der Ware Wohnung florierte.
Herr Welle war ausgezogen, um Mietern, die das Haus zu ihrer Heimat gemacht hatten, das Fürchten zu lehren. Das umso effektiver, als sich für sein Wohnungsfreimachungsprogramm und die dazu notwendigen Repressalien ein alteingesessenes Rentner-Ehepaar angedient hatte, bisher informelle Mitarbeiter (IMs) der Hausverwaltungen, das Herr Welle mit der Hausübernahme dankbar zu seinen formellen Mitarbeitern (FMs) machen konnte. Er kaufte mit ihnen Experten in Mobben, Diffamieren und Denunzieren ein. Jetzt hatten sie den lang ersehnten „Überbau“, unter dem sie nach Herzens Lust und mit vollem Einsatz als willige Vollstrecker agieren konnten. Jetzt hatten sie die „richtige“ Hausverwaltung, unter der sie ihren Traum von der Mieterschaft der angepassten, solventen „Gutwilligen“ realisieren konnten. Gefährlich waren nicht so sehr ihre „Beobachtungen“ über Mieter, mit denen sie Herrn Welle belieferten, als vielmehr ihre „Interpretationen“ derselben. Herr Welle überließ dem Ehepaar die Deutungshoheit, kam ihm deren Schädlichkeit für die Diffamierten doch gelegen. Die FMs gaben Mietern den Rest, die auf der Abschussliste standen. Zur Belohnung durften sie dann die freigemachten Wohnungen im Internet anbieten und in realiter vorführen, wenn auch nicht als „Makler“, so doch sich der gelungenen Vertreibung freuend.
Herr Welle war ein Glückspilz. Seine Pläne gingen nach und nach auf. Ihm bereitete nur ein Schönheitsfehler Magenschmerzen: das Haus beherbergte einen alten „Mieteraktivisten“, wie ihm die FMs mitteilten. Der war der Erste, den Herr Welle in der Mitte des Jahres 2010 „heimsuchte“. Dieses gefährliche Subjekt war zwar schwerkrank, aber Herr Welle biss sich quasi an dem Wehrlosen fest. Er ließ ihm eine regelrechte „Sonderbehandlung“ der Verdrängung, nämlich die „Mietervertreibung“, angedeihen. Zum Zweck dieses Endziels schlug Herr Welle gnadenlos zu: Er nahm dem unliebsamen Subjekt eine Funktion von Wohnung und Umfeld nach der anderen, bis diese ihm nur noch als belastendes, von horrenden Mietsteigerungen bedrohtes Gefängnis blieb. Selbst das alte Haustier nahm die Bedrohung seiner friedvollen, behüteten Existenz war und bereitete sich auf seinen Tod vor, der zeitgleich mit dem Mietaufhebungsvertrag eintrat. Sein Hüter hatte die Segel gestrichen und sich auskaufen lassen mit einer Abfindung, der höchsten im Haus zwar, aber immer noch zu niedrig.
Wir fragen hier nicht nach der moralischen Verfassung eines Hauseigentümers, der innerhalb eines Jahres ein Drittel der Mieterschaft in Existenzangst versetzt. Der Fall ist klar: „Man“ will vermarkten, was zu vermarkten ist. Turbo-Kapitalismus hat in der Hauptstadt Platz genommen. Die Wohnung ist eine „Ware“ geworden und Wohnungen gelten als krisensichere Geldanlage. Reiche Griechen fliehen Heimat und Steuerbehörden und kaufen Eigentumswohnungen im Berliner Altbau auf. Der Fall ist klar.
Wir fragen aber nach der moralischen Verfassung eines wohlhabenden Rentnerpaares, das, Nachbarn diffamierend, das Feld bereitet für die Austreibung einer weniger zahlungskräftigen, alteingesessenen Mieterschaft, um durch überflüssige Hochmietensanierung und prätentiöse Luxusmodernisierung ihre eigene, weniger hochwertige Herkunft zu adeln und ihre Missetaten unter den Teppich der neuen Generation im Haus kehren zu können. Das Ehepaar hatte den Ernstfall, der mit der Übernahme des Hauses durch Herrn Welle eingetreten war, sorgfältig vorbereitet.
Wie wir sehen, ist es möglich, mitten in Friedenszeiten, mitten in der Geburtsstadt seine Heimat zu verlieren. Herr Welle kriegt weiter, aber wird er in Zukunft noch alles „kriegen“?
© Copyrights by Ute Becker – Berlin-Charlottenburg – Version 09/2011-4. März 2012
Ute Becker - Studio am Rande
Schriftstellerin und Essayistin
Berlin-Charlottenburg
Ute Becker (BI Stutti) - Gastautoren, Gesellschaft - 04. März 2012 - 21:02
Tags: charlottenburg/gentrifizierung/modernisierung/sanierungsvorhaben
Kein Kommentar
Kein Trackback
Trackback link: