Straßen und Plätze: Seelingstraße
Für S. W.
Ursprünglich hieß die Seelingstraße seit der Zeit von vor 1824 Potsdamer Straße. Lange war sie kaum mehr als ein Pfad durch die Äcker und Wiesen in dem Bereich südlich des Klausenerplatzes und westlich der Schloßstraße, wie auf dieser Karte von 1842 zu sehen ist:
Als nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 die Frankreich auferlegten Kriegsentschädigungszahlungen der Industrialisierung im neugegründeten Deutschen Reich einen kräftigen Anschub gaben, entstand ein wachsender Bedarf an Wohnraum für die in die Städte strömenden Fabrikarbeiter. Damals ging es auch hier mit der Bebauung los, und zwar 1872 mit Nr. 52 und noch einigen weiteren Häusern. (Diese Karte (1882) weist den noch fast unbebauten Zustand der Straße um 1880 aus.) Der große Bauboom fand zwischen 1884 und 1889 statt mit dem Gros von 25 Mietshäusern. Ende des 19. Jahrhunderts – wie diese Luftaufnahme von 1895 mit Blick nach Westen zeigt –
war die Straße größtenteils bebaut, und bis 1904 (Nr. 24/26) schloß man dann auch die wenigen noch vorhandenen Baulücken. Alle Häuser existieren noch und stehen unter Ensembleschutz.
Im Jahr 1934 wurde diese Straße reichsweit bekannt, als am 15. Juni ein Totenwagen mit dem Leichnam von Richard Hüttig in westlicher Richtung durch „seine“ Straße rollte und dies von den Anwohnern zum Anlaß genommen wurde für eine Kundgebung gegen die Nationalsozialisten, wie sie Jan Petersen am Ende seines Buches Unsere Straße geschildert hat:
Stille. Atemlose Stille. Hell klappen die Pferdehufe. Der Totenwagen kommt langsam näher. Da fliegt ein roter Blumenstrauß durch die Luft, prallt gegen den Totenwagen. "Du bis für uns gestorben, Genosse Hüttig!", ruft eine Frau mit gellender Stimme. Auf einmal sind wir alle ein Mund. Hundertstimmig schreit es in der engen Straße: "Rache! Rache! Rot Front!" Der Totenwagen hält mit einem Ruck. Die Uniformierten laufen auf die Bürgersteige zu. Sie schlagen zwischen die Menschen, reißen Menschen zu Boden.
Eine Gedenktafel erinnert am Haus Nummer 21 an diesen ersten von etwa 2500 Menschen, die in der Zeit des Nationalsozialismus allein in Plötzensee hingerichtet wurden. (Mit einer weiteren Tafel wird am selben Haus seit Oktober 2010 des Fotografen und Filmemachers Walter Reuter gedacht.)
Im März 1950 wurde – wohl um die mehrfache Benutzung von Straßennamen in Westberlin zu beenden – der Name der Straße in Seelingstraße umgeändert (und gleichzeitig auch die Numerierung der Häuser umgestellt von der hufeisenförmigen auf die wechselseitige). Im Bezirkslexikon findet sich zum Namensgeber nur eine knappe Notiz:
„Seelingstraße
Von Sophie-Charlotten- und Schloßstraße
Benannt 1950 nach dem Architekt und Kommunalpolitiker Christian Heinrich Seeling (01.10.1852 in Zeulenroda - 15.02.1932 in Berlin)“
Was auf den ersten Blick aussieht wie eine weitere Ehrung eines ansonsten unbekannten lokalen Würdenträgers, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als ein guter Griff, um an einen Menschen zu erinnern, dessen Wirken bis heute deutlich das städtische Umfeld geprägt hat.
Seeling wurde nach dem Studium selbständiger Architekt und spezialisierte sich dabei auf Theaterbauten, die man u.a. in Frankfurt/M. (Schauspielhaus), Essen, Bromberg (Bydgoszcz), Freiburg i. B., Nürnberg (Oper) und Halle (Saale) findet; das Berliner Ensemble (1891/2 als Neues Theater am Schiffbauer Damm entstanden) stammt ebenfalls von ihm. Er war Mitglied der Preußischen Akademie der Künste (1896), Professor (1917) und Stadtältester von Berlin (1924).
Aber vor allem war er von 1907 bis 1921, als Charlottenburg in Groß-Berlin aufging, Stadtbaurat dieser Stadt. Und als solcher hat er eine Vielzahl von Bauwerken hinterlassen, die er teils alleine entwarf, teils in Zusammenarbeit mit anderen Architekten. Auf diese Bauten soll hier nun hingewiesen werden (ausführlichere Erläuterungen finden sich in den Links):
Lietzenseekaskaden Der Lietzensee war 1904 nahezu verlandet. Dennoch wollte man auch hier, wie im Grunewald, gehobenes Wohnen an einem See ermöglichen und baggerte ihn daher aus, allerdings nicht bis zum Boden des Faulschlamms. Seitdem gibt es das Problem des starker Algenwuchses mit entsprechendem Gestank. Als Teil einer technischen Anlage, mit der dem Wasser mehr Sauerstoff zugefügt werden sollte, entwarfen Seeling und Erwin Barth (seit 1912 Gartenbaudirektor in Charlottenburg) die Große und die Kleine Kaskade (1912-13).
Der westliche, schlankere Wasserturm am Spandauer Damm wurde 1909/10 nach Seelings Entwurf im Stil der sog. Burgenarchitektur für die Villenkolonie Westend errichtet.
Zwischen 1912 und 1916 führte Seeling bauliche Erweiterungen am Städtischen Krankenhaus Westend durch.
In Zusammenarbeit mit Paul Weingärtner entstand die Eosander-Schinkel-Grundschule 1913/14 in der Nithackstraße als 31. und 32. Gemeindeschule. Sie diente jedoch zunächst als Kriegslazarett und dann bis Anfang der 20er Jahre als Freikorpskaserne.
Rathaus Charlottenburg Schon wenige Jahre nach der Einweihung des neuen Rathauses im Jahr 1905 wurde eine Erweiterung notwendig. Seeling entwarf dazu die Pläne; ausgeführt wurden die Arbeiten zwischen 1911 und 1915. In der für die Sparkasse errichteten Halle ist jetzt die Stadtbücherei untergebracht. Auch die Gedächtnishalle für die Toten der beiden Weltkriege und die Opfer des Nationalsozialismus im 2. Stock stammt von ihm.
An der Stelle der Deutschen Oper an der Bismarckstraße stand ursprünglich Seelings Deutsches Opernhaus (1911/12) – das bürgerliche Gegenstück zur Königlichen Oper Unter den Linden. Der klassizistische Bau besaß damals die weltweit größte Bühne. In den 20er Jahren war Bruno Walter Generalmusikdirektor.
Weitere Schulbauten Seelings in Charlottenburg sind die Schiller-Oberschule (1911 bis 1913 als Leibniz-Oberrealschule entstanden) und die heutige Reformschule (1908/09) in der Sybelstraße 20, die eine wechselvolle Geschichte hat: Über dem Eingang steht eingemeißelt, daß dies die 25. und 26. Gemeindeschule ist; nach dem Zweiten Weltkrieg beherbergte sie die Goerdeler-Grundschule und die Pommern-Hauptschule. Seit 2009 ist hier die 1. Gemeinschaftsschule Charlottenburg untergebracht. Das Gebäude fällt durch seine vielgestaltige Fassade aus Backstein und Muschelkalk und besonders durch seinen hohen Uhrenturm auf.
Ebenfalls von Seeling entworfen wurden im Jahr 1911 die Marchbrücke und die Dovebrücke, beide als Ersatz für Holzbrücken.
Heinrich Seeling ist in einem Ehrengrab auf dem städtischen Friedhof in Wilmersdorf (Berliner Straße) beerdigt (Abt. A1). Er hat es verdient, mit einem angemessenen Straßenerläuterungsschild (1) den Bewohnern bekanntgemacht zu werden.
Die Gründerzeit-Altbauten mit ihren schmucken Stuckfassaden wurden in der Seelingstraße, wie auch in den anderen Straßen im Kiez am Klausenerplatz, in den 70er bis 80er Jahren umfangreich saniert. Die Seelingstraße hat sich in den letzten Jahren neben dem alteingesessenen Gewerbe wie dem bunten Obst-Gemüse-Fleisch-und-mehr-"Özen Kardeşler Market"-Eckladen und dem "Brotgarten" mit etlichen neuen Restaurants und Cafés zu einem beliebten Einkaufsort und Treffpunkt entwickelt.
Das dürfte zu einem großen Teil daran liegen, daß der Bürgersteig in der Seelingstraße zwischen Danckelmann- und Nehringstraße auf der nördlichen Seite breiter ist als irgendwo anders im Kiez. Das bietet mehr Platz für Tische und Stühle zum Draußensitzen in den wärmeren Jahreszeiten und für so manch kleines zauberhafte Fest.
Ausführlichere Informationen zu Seelings Bauwerken findet man im Berliner Bezirkslexikon (Edition Luise) und in Einzelartikeln zu seinen Bauwerken im Lexikon des Bezirksamtes.
Text: MichaelR und maho – Fotos: maho und c.
* Bildquelle der Karte von 1842: Zentral- und Landesbibliothek Berlin (ZLB) / Wikipedia
* Bildquelle derLuftaufnahme/Ballonaufnahme von ca. 1895: Wikipedia
(1) Ein möglicher Text: „Heinrich Seeling (1852 – 1932) / 1907 – 1921 Stadtbaurat / Prägte das Stadtbild von Charlottenburg mit“
MichaelR - Gastautoren, Geschichte - 27. Dezember 2012 - 20:44
Tags: seeling/seelingstraße/stadtgeschichte/straßen
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