Straßen und Plätze: Sybelstraße 20/21 – Reformschule
Im Jahr 1902 erwarb die Stadt Charlottenburg ein 7368 m² großes Grundstück in der damals noch als Straße 9 bezeichneten und 1904 nach Heinrich von Sybel benannten Straße für den Bau zweier weiterer Gemeindeschulen. Der Vorentwurf dazu stammte von dem Architekten Walter Spickendorff, damals Stadtbauinspektor, die endgültige Fassung von Heinrich Seeling. Der Baubeginn war im Mai 1908.
Auf L-förmigem Grundriß entstand ein Bau mit einem Straßenabschnitt von 74 m Länge und einem 88 m langen Seitenflügel. Die Gebäudefront mit dem quadratischen Uhrturm ist auf die Roscherstraße ausgerichtet, die hier auf die Sybelstraße stößt. Schon von jenseits des Kurfürstendamms sieht man die von einer Haube gekrönte offene Aussichtsplattform des Nachts angestrahlten Turmes (Gesamthöhe ca. 67 m) weit über die Wipfel der Straßenbäume emporragen.
Der 5geschossige Mauerwerksbau ist an der Straßenfront mit roten Ziegeln
– teils im Fischgrätenmuster – verblendet, der Sockel und schmückende
Elemente sind aus Muschelkalk. Die Straßenfassade ist äußerst
abwechslungsreich gegliedert durch zurückspringende Bauteile, Erker,
Balkone, kleinteilige Schmuckreliefs und Giebel, wodurch die
Gebäudemasse stark aufgelockert wird. Hinzu kommt ihre asymmetrische
Anlage, die bedingt ist durch den aus der Mittelachse leicht nach rechts
gerückten Uhrturm, den von steinernen Sitzbänken eingerahmten
Doppeleingang für die Schüler auf der linken und als Gegenstück die
Tordurchfahrt auf der rechten Seite sowie die im rechten Bauteil
zusammengefaßten, von beiden Flügeln aus zugänglichen Räume, die an
ihren großen Fenstern zu erkennen sind: unten die (ehemalige) Turnhalle,
darüber die Aula; schließlich noch unter der Traufe Klassenräume für
Physik und Zeichnen.
Es fallen eine Vielzahl von dekorativen Elementen am und im Gebäude ins
Auge. Dazu gehören u.a. die kleinteiligen Sprossenfenster, die in Stein
gemeißelte Inschrift „25. und 26. Gemeindeschule“ über dem Doppeleingang
, die von Mosaik umrahmte Schuluhr in der Eingangshalle mit der
Ermahnung „Es eilt die Stunde – Nutze die Zeit“, die feingliedrige
Gestaltung der Treppengeländer und die (ehemaligen) Trinkbrunnen aus
dunkelgrün glasierten Kacheln auf den Fluren.
Stilistisch läßt sich der Bau einordnen in die Zeit des Übergangs vom Jugendstil zur Moderne.
Am 7. Oktober 1909 fand die Einweihung der Schule statt, deren Errichtung 956.400 Reichsmark gekostet hatte. Um 1920 erfolgten kleinere Umbauten. Die relativ geringen Kriegsschäden am Turm und obersten Stockwerk wurden 1951-53 behoben und dabei die Aula neu gestaltet. 1982-84 wurde das Gebäude in seiner ursprünglichen Gestalt wiederhergestellt.
Seit Gründung der Reformschule, einer Gemeinschaftsschule, im Jahr 2009 finden im und am Haus noch lange nicht abgeschlossene Bauarbeiten statt, mit denen es für seine neue Nutzung hergerichtet werden soll: Einbau eines Fahrstuhls, Wiederherstellung der Lehrküche im Erdgeschoß des Seitenflügels, Beseitigung von Zwischenwänden, um Doppelräume für Gruppen von 48 Schülern zu schaffen (1), Einrichtung von Nebenräumen der Klassenzimmer (für Garderoben und Schließfächer) auf Kosten der Flurfläche („Entflurung“), Gruppenarbeitsplätze auf den Fluren u.s.w. Bei all dem geht es darum, Raum und Arbeitsbedingungen für eine Schule von der 1. bis zur 10. Klasse zu schaffen (im Grundschulbereich 3ügig, dann 4zügig), also für ca. 800 Schüler, die sich von 8 Uhr bis 16 Uhr im Gebäude aufhalten. Das schließt auch ein, daß verschiedene Räume für ganz andere Zwecke als ursprünglich gedacht hergerichtet werden: die Eingangshalle hinter dem Doppeleingang als Café, die Turnhalle als Bibliothek (hinten auf dem Hof steht eine neue Turnhalle).
Das Gebäude kann auf eine 104jährige Geschichte zurückblicken. In dieser Zeit gab es in seiner Nutzung viel Kontinuität und manchen Wandel.
Ursprünglich war der Bau für zwei (damals 8jährige) Volksschulen errichtet worden: die 25. Gemeindeschule (gegründet am 1.4.1906 in der Lützowstr. 1/2, Knabenschule, im Straßenflügel untergebracht) und die 26. Gemeindeschule (gegründet am 8.1.1907, Mädchenschule, im Seitenflügel angesiedelt). Beide Schulen wurden 1925 umbenannt in 25. bzw. 26. Volksschule. Während des Krieges (1940-1945) wurden sie in die Sybelstraße 2/4 (heute Sophie-Charlotte-Oberschule) ausgelagert, da das Schulgebäude als Lazarett genutzt wurde.
Außerdem befand sich für ein Schuljahr (1939/40) die 21. Volksschule (eine Knabenschule) im Haus.
Neben den erwähnten Volksschulen waren in dem Zeitraum bis 1945 u.a. zwei höhere Schulen vorübergehend hier untergebracht: in den Jahren 1910 bis 1915 die Höhere Mädchenschule IV (gegründet 1906 oder 1909) und von 1935 bis 1939 die Gudrunschule/Mädchenmittelschule (1935 hier gegründet).
Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrten im Oktober 1945 die 25. und 26. Volksschule in das Gebäude zurück. Die erstere (Knabenschule) bezog Räume im Straßenflügel, die letztere (Mädchenschule) im ersten und zweiten Obergeschoß des Seitenflügels.
Im Rahmen der Schulreform von 1951 (2) wurden die beiden Schulen in koedukative Grundschulen (mit sechs Jahrgängen) umgewandelt und erhielten neue Namen: 3. bzw. 4. Grundschule. Gleichzeitig befand sich hier im selben Jahr noch eine dritte Grundschule: die 2. Grundschule (1873 als Mädchen-Stadtschule C gegründet); sie wurde jedoch nach einem Schuljahr in die 4. Grundschule aufgelöst.
Für die Schüler ab Klasse 7 mußte eine Lösung in Form einer neuen Hauptschule gefunden werden. Daher zog 1955 die 1951 in der Danckelmannstraße 26/28 gegründete 4. OPZ (vgl. 2) in den dritten und vierten Stock des Seitenflügels.
1954 begann man in Westberlin, den Schulen Namen zu geben; seitdem hießen die Schulen Goerdeler-Schule (3. Grundschule) (nach dem Juristen und nationalkonservativen Politiker Carl-Friedrich G. (1884-1945), der zum Kreis der Attentäter vom 20. Juli 1944 gehört hatte), Helene-Lange-Schule (4. Grundschule) (nach der Pädagogin und Frauenrechtlerin, 1848-1930) und Pommern-Schule (4. OPZ) (so genannt im Zusammenhang mit der Patenschaft, die der Bezirk Charlottenburg 1955 für die Landsmannschaft Pommern übernommen (und 2006 beendet) hatte).
Eine weitere Umbenennung erfolgte 1967 nach einer neuen Systematik in 3. G, Goerdeler-Grundschule, 4. G, Helene-Lange-Grundschule und 4. OH, Pommern-Hauptschule (schon zwei Jahre später erneut umbenannt in 1. OH, Pommern-Oberschule (Hauptschule)).
1980 tauschten die Goerdeler-Grundschule und die Pommern-Hauptschule ihre Räume, so daß die beiden Grundschulen jetzt gemeinsam im Seitenflügel untergebracht waren, getrennt von der Hauptschule. (3) Jedoch wurde die Helene-Lange-Grundschule, nachdem sie 1981/82 nur noch einzügig war, im folgenden Schuljahr in die Goerdeler-Grundschule aufgelöst. So befanden sich ab dem Schuljahr 1982/83 nur noch diese und die Pommern-Oberschule im Gebäude.
1998 wurde die Grundschule in eine Staatliche Europa-Schule mit der sprachlichen Ausrichtung Deutsch-Polnisch umgewandelt (zwei Züge zweisprachig, der dritte Zug blieb einsprachig). Zehn Jahre später, am Ende des Schuljahrs 2007/08, erfolgte die Ausgliederung des deutsch-polnischen Teils der Schule an die Katharina-Heinroth-Grundschule, die seitdem Staatliche Europa-Schule Deutsch-Polnisch ist.
Der Hauptschule angeschlossen war seit 1959 eine Abendschule, auf der der einfache Hauptschulabschluß (9. Klasse) nachgeholt werden konnte; die Abendschule ist seit 2010 an die Peter-Ustinow-Schule verlagert.
Außerdem war viele Jahre lang bis 2009 freitags eine taiwanesische Schule im Gebäude untergebracht.
Mit dem Schuljahr 2009/10 wurden die Goerdeler-Grundschule und die Pommern-Oberschule aufgelöst und die verbliebenen Klassen der Grundschule in die neu gründete 1. Gemeinschaftsschule Charlottenburg übernommen (die Hauptschüler gingen über an die Peter-Ustinow-Schule). Diese Schule trägt den Namen Reformschule. Obwohl es diese Schule erst im vierten Jahr gibt, zeigt doch dieser Rückblick, daß sie auf eine lange Tradition zurückblicken kann, seien es die 104 Jahre, die das Gebäude dort steht, seien es die 107 Jahre, seitdem am 1. April 1906 die 25. Gemeindeschule gegründet wurde.
MichaelR – Fotos: maho
(1) Dahinter steht folgende Zielvorstellung: Die Reformschule ist ein Haus des offenen, selbstgesteuerten Lernens, in dem die Schüler – entsprechend ihren eigenen Interessen – dorthin gehen, wo sie etwas lernen möchten. Die Doppelräume sollen das unterstützen, da die Bildung von mehreren kleineren Gruppen aus einer großen Gruppe besser möglich ist. In den Doppelräumen sind immer zwei Lehrer – mit denselben oder unterschiedlichen Fächern – gleichzeitig anwesend. Die Schüler finden Arbeitsplätze, außer im Doppelraum, in angrenzenden Teilungsräumen oder auf dem Flur.
(2) Im Juni 1948 trat das Groß-Berliner Schulgesetz von 1947 in Kraft, in dem eine 12klassige Einheitsschule vorgesehen war. Nach der Teilung Groß-Berlins (im September 1948) und mit zunehmendem Ost-West-Gegensatz drohte der Westberliner Einheitsschule die Isolation von der Entwicklung in der BRD, da sie von konservativer Seite als kommunistisch verdammt wurde. Der besonders über die Schulfrage geführte Wahlkampf für das (Westberliner) Abgeordnetenhaus im Dezember 1950 brachte eine Koalition aus (geschwächter) SPD, CDU und FDP hervor. Gemeinsam revidierte man das Schulgesetz von 1947 dahingehend, daß die Einheitsschule auf sechs Jahre Grundschule beschränkt wurde (wie in Bremen und Hamburg, im Gegensatz zu den vier Jahren der übrigen Bundesländer), gefolgt von der schon bisher vorhandenen dreigliedrigen Oberschule, deren vager Anspruch eines gemeinsamen Zieles sich in deren Namen ausdrückte: Oberschule Praktischer, Technischer, Wissenschaftlicher Zweig (OPZ, OTZ, OWZ), was natürlich nichts anderes als Hauptschule, Realschule, Gymnasium war – genannt „Berliner Schule“.
(3) Genau das Gegenteil geschieht in der Reformschule, nämlich ein „wildes Durcheinander“. JüL bedeutet „jahrgangsübergreifendes Lernen“, also Schüler aus zwei bis drei Jahrgängen in einer Klasse. 2005 waren die Grundschulen im Land Berlin zu diesem System verpflichtet worden, seit 2011 ist ihnen die Entscheidung freigestellt; bis Anfang 2013 haben sich mittlerweile ein Drittel der Grundschulen dagegen entschieden. Noch um 1970 gab es im ländlichen Raum viele „Zwergschulen“, die jahrgangsübergreifend betrieben wurden, bevor neue pädagogische Vorstellungen damals das Prinzip von Jahrgangsklassen an Mittelpunktschulen durchsetzten.
Materialien
Der Text basiert auf Gesprächen mit Mitarbeitern der Schule sowie folgenden Materialien:
- „Nach 1945 aufgelöste Grundschulen. Ehemalige Gemeindeschulen“ [Archiv Museum Charlottenburg-Wilmersdorf]
- Die Bauwerke und Kunstdenkmäler von Berlin, hg. vom Amt für Denkmalpflege im Auftrag des Senators für Bau- und Wohnungswesen, Berlin 1961 - Band: Stadt und Bezirk Charlottenburg, S.294 (auf der Grundlage der Akten des Bauaufsichtsamtes Charlottenburg und des Berichts über die Verwaltung und den Stand der Gemeinde-Angelegenheiten der Stadt Charlottenburg für das Verwaltungsiahr 1909, Charlottenburg 1910, S.63 - Nachdruck)
- Berliner Bezirkslexikon, Charlottenburg-Wilmersdorf (Edition Luisenstadt): Goerdeler-Grundschule, ebenfalls: Pommern-Oberschule
- Konferenzprotokolle zwischen 30.10.1945 und 1.12.1970
- Pressestelle des Bezirksamts, Lexikon: Charlottenburg-Wilmersdorf von A bis Z: Schulgebäude: Reformschule
- Schulentwicklungsplan (SEP) Charlottenburg-Wilmersdorf 2009
- Gudrun Wedel, Berliner Schulalmanach. Verzeichnis aller öffentlichen allgemeinbildenden Schulen in Berlin (West) (1952-1982), Hohengehren (Schneider-Verlag) 1993 [Archiv Museum Charlottenburg-Wilmersdorf, Aktenordner „Schulgeschichte. Materialien“]
- Horst Wieder, Verzeichnis der öffentlichen Schulen Charlottenburgs von 1867 bis 1951, Bezirksamt Charlottenburg Abt. PVKultur/Heimatmuseum Charlottenburg, 1997 [Archiv Museum Charlottenburg-Wilmersdorf]
MichaelR - Gastautoren, Geschichte - 21. März 2013 - 00:02
Tags: architektur/charlottenburg/gemeinschaftsschule/reformschule/schule
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“Icke” (Marcel Krüßmann), Musiker vom Klausenerplatz, ist seit einigen Jahren an verschiedenen Schulen engagiert tätig – darunter die vorgestellte Gemeinschaftsschule Charlottenburg in der Sybelstraße und auch die Nehring-Grundschule bei uns im Kiez – und bringt Kinder und Jugendliche in den Band AGs von der 3.-13. Klasse dazu, zu singen, zu lachen und Instrumente zu spielen.
http://icke-rockpoet.de