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Mit 17 in die Waffen-SS

 
Für fast alle von uns sind heutzutage SS und Waffen-SS verbrecherische Organisationen. Wie konnte da jemand freiwillig in die Waffen-SS eintreten, und das sogar noch kurz vor Kriegsende? Anhand der Fälle von Günter Grass und Erich Loest entstand 2006 eine breite Diskussion darüber. Schon Jahre davor (1984) hatte der damalige Bundeskanzler H. Kohl den Begriff der „Gnade der späten Geburt“ geprägt. Besser wäre, man spräche vom Zufall des Geburtsdatums und von dem Glück/Unglück, zu einer bestimmten Zeit aufgewachsen zu sein und gelebt zu haben. Wichtig erscheint dabei, welche Schlüsse man fürs spätere Leben daraus gezogen hat.

Im Zusammenhang mit der Erinnerung an einen 17jährigen Deserteur, der eventuell der Waffen-SS angehörte, wird diese Frage wieder aufkommen (immerhin war 1995 aus diesem Grund vom Bezirksamt Wilmersdorf ein Antrag auf eine Gedenktafel abgelehnt worden). Daher kann es nützlich sein, daß ein Zeitgenosse von ihm hier erklärt, wie er im April 1945 zur Waffen-SS gekommen ist.



 
Warum gingen 17jährige im Frühjahr 1945 zur Waffen-SS?

Objektiv war für Deutschland mit dem Vordringen der Westalliierten über den Rhein nach Osten, den Russen an der Oder der Krieg entschieden, subjektiv vertrauten viele Hitlerjungen weiter auf den Führer, seine Geheimwaffen, auf ein Wunder, Streit unter den Alliierten. Wir Gymnasiasten vom Jahrgang 1927 kamen im September 1943 mit der Klasse als Flakhelfer zur Marine in Wilhelmshaven. Wir setzten an Geschützen und Leitstand Soldaten frei, die fürchteten, an die Ostfront geschickt zu werden. Nach einem Jahr, September 1944, wurden wir vom nächsten Jahrgang abgelöst. Kurze Zeit wieder Schule, Einsatz beim Schanzen, im Februar 1945 Einberufung zum Reichsarbeitsdienst (RAD). Vom Westen näherten sich alliierte Verbände, daher keine Entlassung am Ende der Dienstzeit, sondern ihr werdet um Mitternacht vom Heer übernommen. Wir Offiziersbewerber von Luftwaffe, Marine, ich Waffen-SS, setzten beim Lagerleiter durch, zu unserer Waffengattung kommandiert zu werden. Ich fuhr zum Hauptamt der Waffen-SS im Braunschweiger Schloss. Die Kameraden schickten mich heim zu Muttern, noch Kraft anfuttern, warten, bis die Einberufung kommt. Jahrzehnte später begriff ich, die wollten mich vor dem Schlamassel bewahren. Mir war nicht zu helfen.

Ich hatte mich 1944 als Führer (Offizier) bei der Waffen-SS beworben, weil die nach Ablauf der Dienstzeit die Finanzierung eines Studiums versprach, was meinen Eltern nicht möglich war. Ein anderes Motiv war, ich hatte von Landsern gehört, die Waffen-SS sei besser bewaffnet, motorisiert, käme nur als Eingreiftruppe zum Einsatz, müsse nicht, wie Infanterie, im Graben ausharren. Eine gewisse Furcht und Zurückhaltung kam aus Berichten von der besonderen Härte in Ausbildung und Einsatz. All das war abstrakt, ich wusste nichts von der Realität, kannte keinen Waffen-SS-Mann.

Daheim im Dorf bei Uelzen hörte ich vom Onkel, der die örtliche Telefonzentrale bediente: Braunschweig von britischen Truppen besetzt. Von dort konnte also keine Einberufung mehr kommen. Nun blieb nur der Volkssturm, zu dem sich alle von 16 bis 65 zu melden hatten. Im Gymnasium sammelte der Rektor alte Uniformen und Waffen. Buntgescheckte Volksstürmer zogen durch die Stadt. „Zu solch einem Haufen gehen wir nicht“, waren ein gleich alter Kumpel, Landarbeitersohn, und ich uns einig. Wir verabschiedeten uns von besorgten Eltern, stellten uns an die von fliehenden Stäben Richtung Elbe befahrene Reichsstraße, kamen per Anhalter über die Elbe, meldeten uns beim Hauptamt in Schwerin. Das, bereits in Auflösung, schickte uns nach Güstrow, wo der Apparat noch arbeitete: Medizinische Untersuchung, bei mir als Führer auch auf Rassetauglichkeit. Am Ende die Routinefrage nach der gewünschten Einheit. Mein Landarbeiter zu den Reitern, ich zur Division Hitlerjugend. Warum die? Wohl weil die oft in der Wochenschau zu sehen war. Die Frage war obsolet. Die Division war längst in Frankreich vernichtet. Im April 45 gab es nur noch das Ausbildungslager der Leibstandarte Adolf Hitler(LAH) in Spreenhagen bei Berlin.

Im Zug nach Berlin fernes Wummern. Missmutige Auskunft: Das sind die Russen an der Oderfront! Mit der S-Bahn durch die rauchende Stadt. Das Lager aufgestört. Die Schreibstube kassierte den Wehrpass, hatte für Soldbuch, Blechmarke keine Zeit. Am Abend der Befehl Lager auflösen, der Russe ist durchgebrochen, im Anmarsch auf Berlin. Wer an der Waffe ausgebildet ist, rechts raus, die anderen rücken ab nach Berlin. Wir beide nach rechts. Einkleiden, Uniform, LAH-Streifen lose, könnt ihr im Graben annähen. Waffen fassen! Wir schnappten uns Karabiner, Panzerfaust, Handgranaten. Nachts mit dem LKW an die Front. Eingraben am Waldrand, davor Wiese, kleiner Fluss, kann ein Panzer nicht durch, dahinter ein Dorf. Früh Motorengeräusche, LKW, ein Panzer. Unsere? Die Russen! Der Panzer fuhr vor, für Panzerfäuste zu weit weg, schoss ein paar Sprenggranaten. Ein Dutzend Burschen floh vor Schreck, der Unterführer holte sie zurück, schimpfte Kindergarten! Die Russen richteten Granatwerfer auf der Wiese ein, ihre Granaten zersplitterten die Baumkronen, den Tag, die Nacht. Wir gruben uns tiefer in den Sand. Mit dem Unterführer als Melder zum Stab im Wald nahe Münchehofe. Am nächsten Morgen auf dem Rückweg kommt uns ein Haufen entgegen, der Rest unserer Einheit. Meldung: der rechte Flügel von Panzern überrollt, dazu Scharfschützen. Da kam niemand raus! Da starb wohl auch mein Kumpel. Einer der Namenlosen auf dem größten deutschen Soldaten-Friedhof von Halbe, ohne Blechmarke, Soldbuch nicht zu identifizieren.

Als Hitlerjungen hatten wir geschworen: Heilig Vaterland in Gefahren, deine Söhne sich um dich scharen! Die Illusion vom Endsieg war vor den Realitäten verschwunden, es ging nur noch ums Überleben. Als Werber unter unserem Haufen Versprengter für verdeckten Kampf hinter der Front in der Division Brandenburg warben, folgte niemand. Tag und Nacht vergebliche Versuche auszubrechen, schließlich beschloss unser Trupp Versprengter, durch die Front zu schleichen oder sich den Russen zu ergeben. Die hatten Gefangene in den Kessel zurückgeschickt, um den Soldaten die Furcht vor dem Erschießen zu nehmen. Die kassieren nur die Uhren! Ein Rotarmist von weitem im Wald: Kamerad komm! Wir legten die Waffen ab, gaben uns gefangen. Auf dem Marsch auf der Autobahn in 500er-Kolonnen riefen Soldaten von LKW, Panzer: Skoro domoij – Bald nach Haus! Das dauerte noch vier Jahre, bis ich 1949 als Antifaschist nach Deutschland heimkehrte. Ein schrittweiser, schwieriger, widersprüchlicher Wandel, den nur eine Minderheit in den Lagern vollzog. Mehr darüber ist in meiner Autobiografie nachzulesen.

 

Siegfried Burmester


Burmester, Siegfried - Ein Leben zwischen Irrtum und Hoffnung, Sangerhausen (Edition Neue Wege) 2002

Siegfried Burmester - Gastautoren, Geschichte - 04. August 2013 - 18:56
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