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„Der Schock sitzt noch heute in mir“

 
Aufgrund der von mehreren Zeitungen aufgegriffenen Pressemitteilung des Bezirks, mit der Zeitzeugen für den Mord an einem 17jährigen am Kriegsende gesucht werden, haben uns Berichte über Morde an kriegsunwilligen Soldaten auch in anderen Teilen der Stadt erreicht. Wir drucken sie hier ab und danken den Verfassern sehr herzlich dafür, daß sie bereit waren, uns ihre Erinnerungen zur Verfügung zu stellen.

 
 

Dominicus-/ Ecke Hauptstraße

Es war Ende April 1945. Wir, also mein Mann, unser Kind und ich, wohnten damals vorübergehend bei meinen Schwiegereltern in Friedenau. Wir wollten von der Rheinstraße zum Bayerischen Platz, um dort im Geschäft der Schwiegereltern nachzuschauen, ob etwas kaputt ist oder noch alles in Ordnung. Es fuhren ja keine Busse, da hat uns ein Mann in seinem Auto ein Stück mitgenommen bis zur Kreuzung Dominicusstraße. Wir sind an der Kreuzung ausgestiegen, und das war genau neben einem toten Soldaten, der an einer Laterne hing. Er hatte ein Schild um, darauf stand: „Ich war zu feige, für Frau und Kinder zu kämpfen.“ Ich war erschüttert, ich war ja noch jung. Der Schock sitzt noch heute in mir.
So etwas ist ja sehr oft gewesen zu diesem Zeitpunkt.
E. B. (1.8.2013, aufgezeichnet von MichaelR)

Seit 1985 gibt es dort eine Gedenktafel auf dem Mittelstreifen in Richtung Süden.





Wielandstraße

Meine Mutter, in Friedenau geboren und aufgewachsen, hat mir auf meine Nachfragen hin immer wieder einiges aus den Jahren des Zweiten Weltkrieges in dem Bezirk erzählt, die sie als bereits Erwachsene dort durchlebt hat. Zu den vielen schrecklichen Erlebnissen gehörten Situationen, über die sie auch noch 60 Jahre später nur mit Grauen reden konnte. So wie folgende:
„Als die Russen bereits in Berlin waren, wurden in der Wielandstraße noch alte Männer vom ‚Volkssturm’ durch Blockwarte an den Laternen aufgehängt mit einem Schild ‚Wir wollten nicht für das Vaterland kämpfen’ vor der Brust. Sie hingen dort mehrere Tage.“
KMdG

 
 

Eine Erinnerung an die 50er Jahre

Mit dem Umzug meiner Eltern vom damals kaum zerstörten Nord-Wittenau nach Wilmersdorf im Jahre 1950 war für mich nun ein Teil dieses Bezirks Ziel meiner Entdeckungstouren.
Mein Vater hatte in dem von Kriegszerstörungen verschonten Rest des „Viktoriagartens“ der Bötzow-Brauerei [*], der ehemaligen Kegelbahn, eine orthopädische Werkstatt eingerichtet, und so wurde die Blissestraße von der Laubacher Straße an bis zur Wilhelmsaue und der Berliner Straße meine Laufstrecke, die ich sehr oft zurücklegte.
In der Blissestraße, auf der Höhe der jetzigen Kreuzung Mecklenburgische Straße, befand sich auf der gegenüberliegenden Seite des Friedrich-Ebert-Gymnasiums ein großer Baum mit starken niederen Ästen, an denen ein Schild hing, das auf den Tod eines jungen Soldaten hinwies, der im Mai 1945 hier aufgehängt worden war, vermutlich weil er nicht weiter kämpfen wollte.  Ich kam hier oft vorbei, auch wenn ich mir von meinem geringen Taschengeld antiquarisch Bücher von einem Bücherwagen kaufte, der auf dem heutigen Grundstück Blissestraße 13-15 bis ca. 1959 stand.
Durch die Zurücknahme der alten Bauflucht, deren Häuser alle zerstört waren, war es möglich, die Blissestraße im nördlichen Bereich auf die jetzige Breite zu erweitern. Mit dem Erwerb des Grundstücks der Bötzow-Brauerei durch den Senat konnte die Verbindung der Uhlandstraße zur ebenfalls erweiterten Mecklenburgischen Straße hergestellt werden.
Hierbei ist wohl auch besagter Baum mit dem Schild entsorgt worden und damit auch die Geschichte eines zerstörten Lebens.
Klaus Dittmer

[*] Der „Viktoriagarten“ lag in der Wilhelmsaue, gegenüber der Einmündung der vom Kurfürstendamm kommenden Uhlandstraße; siehe auch „Vom Dorf zur Großstadt“.

  
 

Der erhängte Soldat in Steglitz

Auf meinem damaligen Heimweg, anfangs von der Berufsschule, später von meinem Studienort in Dahlem (1959-1966), bin ich oftmals an einer großen Laterne mit einer kleinen Tafel in der Albrechtstraße (unweit des S-Bahnhofes Steglitz) vorbeigekommen. Der Inhalt dieser kleinen Erinnerungstafel hatte mich schockiert und immer wieder erschüttert. Im Text wurde man auf das schreckliche Geschehen der letzten Apriltage 1945 aufmerksam gemacht, dass nämlich an dieser Stelle ein unbekannter deutscher Soldat von Nazi-Barbaren „wegen Feigheit vor dem Feinde“ (so etwa der Text des Plakates, was die Nazi-Bestien an dem toten Soldaten befestigt hatten) aufgehängt wurde.
Als 19-jähriger Schüler, später Student, hatte man zu diesem Zeitpunkt weder in der Oberschule noch in der Hochschule von diesen schrecklichen Schicksalen erfahren. Desertion, Fahnenflucht, Wehrkraftzersetzung u. ä. (selbst der Zweite Weltkrieg!) waren damals Themen, die in der Zeit von 1955 bis 1965 in den von mir besuchten (Hoch-)Schulen nicht oder kaum behandelt wurden. Erst mit der schockierenden Kenntnisnahme dieses tragischen Schicksals hat man sich selbst intensiver mit der „Endzeit 1945“ beschäftigt. Als sog. Kriegskind (geb. 1941) hatte man damals aus dieser Zeit nur einige vage schlimme Erinnerungen (Terror der Nazis im April 1945 und später bei den Russen) behalten.
Was mich damals doch sehr verwunderte, war die Tatsache, dass beim Um- und Ausbau der Albrechtstraße - zum Zwecke der Errichtung des Kreisels – die Laterne mit der Erinnerungstafel verschwunden und dort viele Jahre an der ehemaligen Stelle kein derartiger Hinweis auf das Schicksal des toten Soldaten zu finden war. Desto erfreulicher ist es nun, dass auf dem Hermann-Ehlers-Platz eine diesbezügliche Erinnerungsstele für den toten deutschen Soldaten zu finden ist.
Gerhard Bauermeister

 
  
 

Der ältere Mann in Schöneberg 

Meine Mutter war Jahrgang 1928 und hat das Kriegsende in Schöneberg miterlebt. Sie hat mir sehr oft die Geschichte von einem älteren Mann, der im April 1945 nicht zum Volkssturm wollte, erzählt, der an der Hauswand erschossen und mit einem Schild um den Hals an die Laterne gebunden wurde.
Klaus-Dieter Gröhler (3.6.2014)


 
 
Anhand dieser fünf Berichte läßt sich in den Grundzügen erkennen, wie das Erinnern an diese Greueltaten sich im Laufe der Jahre gewandelt hat: Es waren zunächst eher Anwohner, also Privatpersonen, die die Erinnerung aufrechterhielten; auf offizieller Seite, ganz besonders in den Schulen, herrschte hingegen lange Zeit Schweigen. Seit den 60er Jahren sind dann im Rahmen der Modernisierung von Westberlin sogar nach und nach Gedenktafeln entfernt worden, und erst Jahre später kam ein Umschwung von unten in Gang, der schließlich zur heutigen institutionalisierten „Gedenkkultur“ oder gar „Gedenkpolitik“ geführt hat.

MichaelR - Gastautoren, Geschichte - 20. August 2013 - 00:02
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