Gedenken an Charlottenburger Gegner des Nationalsozialismus (11)
„Unsere Straße“ erwacht zu neuem Leben: vier Portraits
Die Veröffentlichung des Artikels „Die vergessene Geschichte“ von
Birgitt Eltzel am 8. Februar 2011 in der Berliner Zeitung hatte
ungeahnte Folgen: Neben einem Leser, der für die Gedenktafel spendete,
meldeten sich vier weitere Leser: In drei Fällen steht der Name des
Vaters, Bruders oder Onkels auf der Gedenktafel, im letzten Fall wohnte
die Familie damals in der Wallstraße (jetzt Zillestraße). Plötzlich
zeigt sich: Was sich vor über einem dreiviertel Jahrhundert dort
ereignete, hat lebendige Spuren bis in die Gegenwart!
Fritz Meyer
Herr Meyer wurde 1904 geboren. Er war Bauarbeiter. Mit 20 Jahren trat er
dem Kommunistischen Jugendverband (KJVD) bei und 1928 der KPD. In
dieser Zeit heiratete er auch und zog in die Kamminer Straße, wo seine
Familie bis nach dem Krieg wohnte. Das folgende Foto entstand 1926 und
zeigt ihn in einem „Russenhemd“, mit dem er seine „Sympathie mit
Sowjet-Rußland“ (wie es auf der Rückseite des Bildes heißt) ausdrückte.
Seit 1930 arbeitete Herr Meyer beim Zentralorgan der KPD, der Roten
Fahne, im Karl-Liebknecht-Haus.
Von Oktober 1933 bis Januar 1934 stand Herr Meyer im Maikowski-Prozeß
zusammen mit 51 weiteren Angeklagten vor Gericht. Es ging dabei um die
Straßenschlacht in der Nacht des 30. Januar 1933, als der reichsweit
berüchtigte SA-Sturm 33 nach erfolgter Machtübernahme und Huldigung
Hitlers auf dem Heimweg durch die Wallstraße marschierte und sich ihm an
die 300 Menschen aus der ganzen Umgebung entgegenstellten. Dabei kamen –
vermutlich durch die Schüsse eines SA-Mannes – der Polizist Zauritz und
der SA-Sturmführer Maikowski ums Leben. In dem folgenden Schauprozeß
wurde Herr Meyer zwar freigesprochen, weil er ein Alibi hatte, aber
sogleich erneut angeklagt (Prozeß gegen Brandenburg und Gen., 1934).
Jetzt ging es um den Vorwurf der „Vorbereitung zum politischen
Hochverrat“. Dabei stützte sich die Anklage auf Ermittlungsergebnisse
aus dem Maikowski-Prozeß, z.B. Herrn Meyers Mitgliedschaft in der KPD.
Die sieben Jahre Zuchthaus mußte er nahezu vollständig verbüßen, bis er
1941 entlassen wurde.
Nach einigen Tagen Haft in der Gestapo-Zentrale in der Prinz-Albrecht-Straße konnte Herr Meyer nach Hause in die Kamminer Straße zurückkehren. Erst jetzt lernte er seinen schon sechsjährigen Sohn Helmut kennen, der während seiner Haft 1935 geboren worden war. Herrn Meyers Frau war bis vierzehn Tage vor der Geburt aus politischen Gründen im Gefängnis festgehalten worden.
Als ehemaliger Zuchthäusler, der zudem auch noch wegen „staatsfeindlicher Betätigung“ verurteilt war, stand er unter Polizeiaufsicht; das hieß, daß er sich jeden Tag auf dem zuständigen Polizeirevier melden mußte. Außerdem hatte Herr Meyer auf Lebenszeit seine „Ehre“ verloren und durfte daher den Hitlergruß nicht benutzen. Wie Ehrverlust und Polizeiaufsicht im Alltag aussahen, beschreibt sein Sohn so:
„(Nachdem mein Vater abends von seiner Arbeitsstelle zurück war,) gingen wir zum Polizei-Revier in der Keplerstraße. Nach dem Anklopfen und dem ‚Herein!’ betraten wir die Wachstube. Mein Vater sagte laut: ‚Guten Abend!’ Der Beamte blickte verwundert, denn hier galt der ‚Deutsche Gruß’. Vater sagte seinen Namen, der Beamte öffnete sein Wachbuch, um Name und Uhrzeit einzutragen. Mit einem lauten ‚Guten Abend’ verließen wir das Polizeirevier. Es war seine Form einer kleinen Revanche.“ (aus: Helmut Meyer, Kamminer Straße, S. 84f.)
Herr Meyer durfte auch nicht als Soldat dienen, da er „wehrunwürdig“
war. Das änderte sich erst mit der Schlacht von Stalingrad (November
1942 bis Januar 1943), bei der die Wehrmacht immense Verluste erlitt,
weshalb nun auch „Wehrunwürdige“ benötigt wurden für den Endsieg. Herr
Meyer wurde in die dafür eingerichtete Strafdivision 999 eingezogen und
nach Griechenland gebracht, wo er verwundet wurde. Das Kriegsende
erlebte er in Tirol.
Bis 1949 wohnten Herr Meyer und seine Familie noch in der Kamminer
Straße. Aus Unzufriedenheit mit den politischen Verhältnissen in den
Westsektoren zogen sie dann in den sowjetischen Sektor. Herr Meyer starb
dort 1979. Sein Name ist auf der Gedenktafel für die Charlottenburger
Gegner des Nationalsozialismus aufgeführt.
(nach Gesprächen mit seinem Sohn Helmut Meyer am 14. und 21. Februar 2011)
Familie Adam
Bis 1934 lebte Karl Augustin Adam (1869-1945), der Großvater von Herrn
Werner Adam, mit seiner Familie in dem Haus Wallstraße 50 (jetzt
Zillestraße 111). Er hatte Zimmermann gelernt, aber fand in seinem Beruf
keine Anstellung. Daher arbeitete er Anfang der 1930er Jahre in einer
der Kneipen in der Wallstraße. In ihr verkehrten Sympathisanten sowohl
der SPD als auch der KPD. (Im Gegensatz zu den Vorständen der beiden
Arbeiterparteien gab es auf lokaler Ebene keinen Haß aufeinander.) Nach
der Machtübernahme wurde die Kneipe von den Nationalsozialisten
geschlossen, und der Großvater hielt es für besser, fortzuziehen, da er
hier in der Wallstraße den Nationalsozialisten als SPD-Mitglied bekannt
war. Das folgende Bild zeigt ihn mit seiner Schwiegertochter und
Herrn Adam, damals zwei Jahre alt, an seinem neuen Wohnort Stahnsdorf im Sommer 1935.
Der Vater von Herrn Adam, Bernhard Adam (1904-1990), heiratete 1932.
Seine Frau hatte er im Sommer zuvor dadurch kennengelernt, daß er –
nachdem er für die KPD im Biergarten ‚Spandauer Bock’ eine Rede gehalten
hatte und danach von der Tribüne herabsprang – in ihren Armen landete.
„Und seitdem sind sie zusammengeblieben.“ Bernhard Adam war über den
KJVD 1927 in die KPD gekommen, allerdings 1931 wieder ausgeschlossen
worden, da er deren spalterischen RGO-Kurs nicht billigte. (Die
Revolutionäre Gewerkschaftsopposition war die von der KPD geführte
Gegengewerkschaft zum Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund – ADGB -,
der seinerseits in den Händen der SPD war.) In den zwei verbleibenden
Jahren bis zum Machtantritt Hitlers gehörte er (als Bezirksvorsitzender
in Charlottenburg) der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAPD) an, einer
kleineren Partei, in der sich ehemalige Mitglieder von SPD und KPD
zusammengeschlossen hatten, die die Einheitsfront der Arbeiterbewegung
gegen den Nationalsozialismus herstellen wollten.
Eigentlich hatte Bernhard Adam Bäcker gelernt, wurde aber nur mit
Unterbrechungen in verschiedenen Kleinbetrieben kurzfristig und zum
Teil berufsfremd beschäftigt, bis er 1928 bei den Berliner Gaswerken
Arbeit fand, zunächst als Rohrleger, dann als Laternenwärter. Die
Belegschaft wählte ihn sogleich zum gewerkschaftlichen Vertrauensmann
und 1931 zum Betriebsrat. Damit und mit seiner Beschäftigung bei den
Gaswerken war im September 1933 Schluß, als er aufgrund des „Gesetzes
zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 4. März 1933 wegen
Zugehörigkeit zu einer kommunistischen Organisation und (damit) wegen
„staatsfeindlicher Betätigung“ entlassen wurde. Wie schon sein Vater,
zog Bernhard Adam ebenfalls 1934 aus dem Viertel um die Wallstraße, wo
er als Kommunist und Leiter einer der
Charlottenburger Häuserschutzstaffeln bekannt war, fort nach
Mahlsdorf.
Ab 1935 war Bernhard Adam zunächst als Fräser und dann als Einrichter an
einer Drehbank bei Loewe in der Huttenstraße arbeitsverpflichtet. Um
untauglich für den Kriegsdienst in Hitlers Armeen zu sein, täuschte er
einen Arbeitsunfall vor und verletzte sich selbst am Bein mit einem der
kiloschweren Dorne, mit denen die Werkstücke zur Bearbeitung in die
Drehbank eingespannt wurden. Zwei Einberufungsbefehle zum Volkssturm,
die er zwei Monate vor Kriegsende noch erhielt, ignorierte er aus
Gewissensgründen kurzerhand.
Nach Kriegsende trat Bernhard Adam wieder bei den Gaswerken ein, wurde
wieder von den Kollegen in den Betriebsrat geschickt und war auch
Mitglied der „Arbeitsvertretung beim Dezernat Versorgungsbetriebe im
Magistrat der Stadt Berlin“ (Bekanntmachung vom 7. August 1945). Und
„mit Genehmigung des Magistrats von Groß-Berlin, Abteilung für Verkehr
und Versorgungsbetriebe“ (Schreiben vom 27. Mai 1949) wurde aus dem
gelernten Bäcker ein Prokurist der Berliner Gaswerke, ganz nach dem
Grundsatz: Lernen kann man alles, wichtig ist nur der politische
Standpunkt. Dieser politische Standpunkt war dann auch der Grund, daß
Bernhard Adam (mittlerweile SED) im Herbst 1949, im Zuge der Spaltung
Deutschlands, vom selben Vorstandmitglied, jetzt der Gasag (Westberlin),
wieder einmal von seinem Posten entfernt wurde.
Herr Werner Adam selbst hat an Wallstraße und Umgebung keine Erinnerung mehr, da er am 2. Mai 1933 geboren wurde (in der Krummen Straße 26) und daher beim Umzug erst ein Jahr alt war. Er hat von seiner Mutter jedoch erzählt bekommen, daß sie ihn oft im Kinderwagen um den Lietzensee gefahren habe; damals konnte man den See ungehindert noch ganz umrunden.
(nach Gesprächen mit Herrn Werner Adam am 1. und 9. März 2011 und auf der Grundlage verschiedener Dokumente aus seinem Privatbesitz)
Willi Miether
Herr Miether wurde 1913 geboren. Als er sieben Jahre alt war, trennten sich seine Eltern, und seine Mutter zog mit ihm und seiner fünf Jahre jüngeren Schwester zunächst zu einer Freundin und später in das Familienhaus der Stadt Charlottenburg in der Sophie-Charlotten-Straße. Diese soziale Einrichtung bot Frauen, die ihren Mann verlassen hatten, einen vorübergehenden Aufenthalt, aber 1933 lebten Mutter und beide Kinder immer noch in den beengten Verhältnissen: ein einziges Zimmer, die Toilette auf dem Podest, dort außerdem ein großes Becken (nur mit kaltem Wasser), an dem man sich auch wusch, da die Küche in der Wohnung dafür viel zu winzig war. Die Familie hatte zu wenig Geld, um eine andere Wohnung zu beziehen, denn als die Mutter nach der Scheidung arbeiten gehen mußte, fand sie als Berufslose nur schlechtbezahlte Tätigkeiten, z.B. als Reinemachfrau bei einem Friseur mit Schauspielerkundschaft auf dem Kaiserdamm oder als Hilfskraft in der Galvanisation bei Siemens. (Obwohl die Schwester von Herrn Miether Schneiderin gelernt hatte, erging es ihr letztlich ganz ähnlich: auch nur verschiedene Aushilfsarbeiten, bis ihr schließlich der Krieg eine Arbeitsverpflichtung im Relaiswerk von Siemens bescherte.)
Als Kind hatte Herr Miether von seinem Vater eine Geige erhalten und Unterricht bezahlt bekommen. Aber als er im Alter von 14 Jahren bei einem Steinmetz in die Lehre kam – er hätte gern Gärtner gelernt, aber sein Vater bestand auf demselben Beruf, den schon er hatte -, war bald Schluß mit dem Musizieren wegen der Schwielen an seinen Händen. Am Ende der Ausbildung (1930) war auch er arbeitslos.
Herr Miether trat dem Kommunistischen Jugendverband (KJVD) bei, stieß im
Sommer 1932 zur Charlottenburger Häuserschutzstaffel Lange und war ab
Februar 1933 dort Gruppenführer. Daher nahm auch er an deren Treffen in
der Nacht des 17. Februar 1933 in der Wallstraße teil. Auf dem Heimweg
begegneten sie zwei SS-Mitgliedern und begannen mit ihnen eine
Schlägerei. Ein SS-Scharführer starb durch den Schuß wohl eines
SA-Mannes, denn die Gegenseite war laut Polizeibericht unbewaffnet.
Herr Miether wurde am 17. März 1933 zu Hause verhaftet und später ins
Columbiahaus, ein berüchtigtes ‚wildes’ KZ der SA, gebracht. Bei den
Mißhandlungen dort fügte man ihm so schwere Verletzungen besonders am
Kopf zu, daß er sich den weiteren Quälereien durch den Tod zu entziehen
versuchte. Seine Schwester durfte ihn im Polizeikrankenhaus in der
Scharnhorststraße besuchen und sah mit eigenen Augen, wie die SA-Männer
ihn zugerichtet hatten.
Am 16. Februar 1934 wurde Herr Miether im
Ahé-Prozeß von einem Sondergericht wegen schweren
Landfriedensbruches zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt; der
Staatsanwalt hatte die Todesstrafe beantragt (möglich geworden war dies
durch die rückwirkende Anwendung von § 5 der Verordnung des
Reichspräsidenten zum Schutze von Volk und Staat vom 28. Februar 1933,
bekannt als „Reichsbrandverordnung“, mit der Reichspräsident Hindenburg
u.a. die Androhung der Todesstrafe auch auf schweren Landfriedensbruch
ausgedehnt hatte). Er war zunächst im Zuchthaus Brandenburg inhaftiert.
Er beantragte dort eine Kopie des Urteils, worauf ihm am 4. Oktober
1934 mitgeteilt wurde, „daß die Aushändigung einer Urteilsabschrift aus
grundsätzlichen Erwägungen nicht erteilt werden kann“
(Vollstreckungsband, Bl. 73). Im Mai 1938 wurde er ins
Strafgefangenenlager Dessau-Roßlau verlegt, wo er bei der
Elbregulierung Zwangsarbeit leisten mußte.
Als seine Schwester ihn nach der Strafabbüßung im Februar 1941 abholen
wollte (sie fuhr von Charlottenburg aus mit einem Fahrrad ohne
Gangschaltung an einem Tag hin und zurück), war die Gestapo schon da und
brachte ihn zunächst ins Polizeigefängnis Berlin, später ins KZ
Sachsenhausen. Im November 1944 wurde Herr Miether aus dem KZ
entlassen, nur um diesmal sogleich zur SS-Sonderformation
Dirlewanger eingezogen zu werden. (Diese Militärformation war – ebenso
wie das Strafbataillon 999 der Reichswehr – von der SS eingerichtet
worden, um die Niederlage des Dritten Reichs mithilfe bisher
„Wehrunwürdiger“ aus KZ und Zuchthaus im letzten Moment noch
abzuwenden.) Nach vier Wochen Ausbildung wurde das Bataillon von Herrn
Miether nach Ungarn verlegt, wo es im Dezember 1944 sofort kampflos zur
Roten Armee überlief. Obwohl das Bataillon in der Mehrzahl aus
„Politischen“ bestand, kamen die meisten – immerhin hatten sie eine
SS-Uniform tragen müssen – nach Sibirien in Kriegsgefangenschaft, wo sie
unter schwersten Bedingungen in einem Bergwerk arbeiten mußten. Erst
Anfang November 1945, als Herr Miether nach Hause entlassen wurde,
waren die über zwölf Jahre SA-Haft, Zuchthaus, Arbeitslager, KZ und
Kriegsgefangenschaft für ihn zuende.
Er wurde noch im selben Monat vom zuständigen Komitee des Magistrats
von Groß-Berlin als Verfolgter des Naziregimes anerkannt, und auf
seinen Antrag hin hob im August 1951 ein Gericht - auf der Grundlage des
erst kurz vorher erlassenen Westberliner Gesetzes über die
Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts auf dem Gebiet des
Strafrechts - das Urteil von 1934 auf.
Im Gegensatz zu seiner Schwester, die 1950 mit ihrer Familie in den
sowjetischen Sektor zog, blieb Herr Miether in Charlottenburg wohnen und
arbeitete beim Senat. Er starb dort 1995. Sein Name ist auf der
Gedenktafel für die Charlottenburger Gegner des Nationalsozialismus
aufgeführt.
(nach Gesprächen mit Frau R., der Schwester von Herrn Miether, am 3.
und 10. März 2011 sowie nach den Gerichtsakten und Herrn Miethers
Angaben in seinem Antrag auf Anerkennung als Verfolgter des
Naziregimes)
Fritz Kollosche
Herr Kollosche wurde 1908 geboren. Seine Eltern wohnten mit ihm und
mehreren Geschwistern in den 1920er Jahren in der Krummen Straße 64
unter beengten Verhältnissen: ein kleines Zimmer und ein größeres, das
als Wohn-Schlafzimmer mit hintereinander gestellten Betten diente,
eine Wohnküche, in der man Münzen einwerfen mußte, um Gas zum Kochen
zu haben, und das Klo war auf dem Flur.
Einige Mitglieder seiner Familie waren in der Arbeiterbewegung
organisiert: seine Schwester in der KPD und bei der Roten Hilfe (die
Rote Hilfe unterstützte Menschen, die aus politischen Gründen vor
Gericht standen oder inhaftiert worden waren, mit Geld, Rechtsanwälten
und durch Besuche in der Haft), ihr Mann ebenfalls in der KPD und im
Arbeitersportclub Libertas 96, andere Verwandte in der Gewerkschaft und
im Arbeitersportverein Fichte. Herr Kollosche war Mitglied im
Kampfbund gegen den Faschismus (dies war eine Ersatzorganisation für den
1931 verbotenen Roten Frontkämpferbund (RFB), den die KPD 1924 als
Arbeiterwehr gegründet hatte) und außerdem in den Charlottenburger
Häuserschutzstaffeln aktiv.
Am 29. August 1932 kam es zwischen Mitgliedern der Häuserschutzstaffeln
und SA-Mitgliedern vor dem SA-Sturmlokal in der Röntgenstraße 12 zu
einer Auseinandersetzung, bei der auch geschossen wurde. Der SA-Mann
Herbert Gatschke starb dabei. Die angeklagten neun
Häuserschutzstaffelmitglieder, darunter Herr Kollosche, wurden am 6.
Oktober 1932 von einem Sondergericht (solche Gerichte gab es nicht erst
ab 1933, sondern auch schon unter Reichskanzler Papen) im
Röntgenstraßenprozeß freigesprochen, da ihre Anwälte Hans Litten und
Kurt Rosenfeld mithilfe des Gutachtens eines Ballistikers nachweisen
konnten, daß die Mehrzahl der Schüsse aus dem Sturmlokal heraus
abgegeben worden war.
Die Nationalsozialisten ließen den klaren Freispruch nicht auf sich
beruhen: Schon bei der Beerdigung von H. Gatschke auf dem Luisenstädter
Friedhof war die gesamte Parteiprominenz mit A. Hitler als Grabredner
aufgetreten, und 1938 wurde die Rosinenstraße in Gatschkestraße
umbenannt (jetzt Loschmidtstraße). Rechtsanwalt Litten von der Roten
Hilfe war den Nationalsozialisten besonders verhaßt, da er im Mai 1931
Hitler gezwungen hatte, als Zeuge vor Gericht zu erscheinen, wo er ihn
zwei Stunden befragte und in Wut versetzte und dabei seine Behauptung,
er wolle ohne jeglichen Einsatz von Gewalt und nur mit
verfassungsmäßigen Mitteln „legal“ an die Macht kommen, unglaubwürdig
erscheinen ließ. Gleich in der Nacht des Reichstagsbrandes am 27.
Februar 1933 wurde Hans Litten in „Schutzhaft“ genommen und fast fünf
Jahre lang durch mehrere Gefängnisse und KZs geschleust und so lange
brutal gefoltert, bis er sich 1938 im KZ Dachau das Leben nahm.
Mit Herrn Kollosche rechnete der SA-Sturm 33 im April 1933 schneller ab:
„Auf seinem Heimweg wurde er aufgegriffen und in den Folterkeller des SA-Sturms 33 gezerrt. (Dort wurde er) wiederholt mißhandelt und gefoltert. Dies war höchstwahrscheinlich ein Racheakt der SA, weil er u.a. zu den 9 Charlottenburger Arbeitern gehörte, die im ‚Röntgenstraßen-Prozess’ freigesprochen werden mussten. Meine Mutter besuchte ihn noch im Krankenhaus, wo sie seine tödlichen Verletzungen und Stiefelabdrücke an Kopf und Brustkorb erkannte.“ (Erinnerungen seiner Nichte, 3. März 2011)
Im Sterberegister 3 Berlin-Charlottenburg ist am 18. April 1933 unter
Nr. 885 in aller Sachlichkeit vermerkt, daß Herr Kollosche tags zuvor im
Krankenhaus Westend „nachmittags um vier ein viertel Uhr“ verstorben
sei und daß seine Mutter erklärte, daß sie von dem Tod ihres 25jährigen
Sohnes „aus eigener Wissenschaft unterrichtet sei“. Sein Name ist auf
der Gedenktafel für die Charlottenburger Gegner des Nationalsozialismus
aufgeführt.
(nach Gesprächen mit der Nichte von Herrn Kollosche, Frau Eva Gumpel, am 3. und 10. März 2011)
Ich bedanke mich sehr herzlich bei meinen Gesprächspartnern dafür, daß
Sie mir Ihre Erinnerungen und Fotos anvertraut haben, damit hier ihrer
Verwandten gedacht werden kann, für die es selbstverständlich war, den
Nationalsozialisten entgegenzutreten. Ich danke ebenfalls Harald Marpe
für seine umfangreiche Unterstützung bei der Beschaffung von
Informationen und dem Kiez-Web-Team für die Internetaufbereitung und Reproduktion der Fotos.
MichaelR
Hinzu kommt noch ein weiteres Portrait, in dem Herr Marian Szelag vorgestellt wird.
Michael R. - Gastautoren, Geschichte - 28. März 2011 - 00:02
Tags: charlottenburg/gedenktafel/klausenerplatz/nationalsozialismus/widerstand
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